Schweizer Buchpreis Karl Rühmann über die Relevanz von Literatur

SDA

4.11.2020 - 11:23

Der Autor Karl Rühmann wurde 1959 im ehemaligen Jugoslawien geboren und lebt heute in Zürich. Mit seinem für den Schweizer Buchpreis 2020 nominierten Roman «Der Held» untergräbt er vermeintliche Wahrheiten zur Frage nach Schuld im Krieg.
Der Autor Karl Rühmann wurde 1959 im ehemaligen Jugoslawien geboren und lebt heute in Zürich. Mit seinem für den Schweizer Buchpreis 2020 nominierten Roman «Der Held» untergräbt er vermeintliche Wahrheiten zur Frage nach Schuld im Krieg.
Source: Keystone/CHRISTIAN BEUTLER

Der Roman «Der Held» ist die Überraschung auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis. Der kaum bekannte Autor Karl Rühmann behandelt darin die grossen Themen Schuld und Wahrheit in einem sehr persönlichen Rahmen.

«Die Literatur soll Fragen stellen, nicht sie beantworten», hält Karl Rühmann im Gespräch mit Keystone-SDA fest. «Indem wir beim Lesen zweifeln, hoffen, uns freuen oder ärgern», erhalten wir die Möglichkeit einer Wahrheit näher zu kommen: «unserer Wahrheit, die wir zuerst gefühlt, dann erst verstanden haben».

Um die Suche nach der Wahrheit geht es im Kern seines Romans «Der Held». Er erzählt von einem Krieg im Südosten Europas und spielt damit auf die Balkankriege der 1990er Jahre an. Die Schatten liegen noch immer über der Region. Ana Tironi, die Frau eines gefallenen Leutnants, sucht Gewissheit über dessen Tod. Er kam unter nicht restlos geklärten Umständen bei einer Kommandoaktion um.

Gewissheit erlangen

«Ich will nur wissen, was passiert ist», fordert sie. Genau darin liegt die Tragik solcher Kriege. «Die Kriege sind erst fertig», sagt Rühmann, «wenn man uns die Wahrheit gesagt hat». Das aber kann lange dauern. In Ana Tironis Fall sind es zwölf Jahre.

Mit ihren Fragen nach der Wahrheit konfrontiert die Frau zwei Männer, für die der Krieg zwar ausgefochten, aber dennoch nicht zu Ende ist. Die beiden Befehlshaber Bartok und Modoran haben sich in UN-Haft in Den Haag kennen und auf einsamen Hofgängen schätzen gelernt.

Trotz ihrer alten Feindschaft verbindet sie das Militärische. Nachdem der eine von ihnen, General Modoran, freigelassen wird, führen sie die gepflegte Konversation brieflich weiter. Als Haushälterin des Generals erfährt Ana Tironi von diesem Kontakt – und beginnt mitzulesen.

Operation Donner

Modoran hat sie eingestellt, um ihr zu helfen, wie er seinem Gegenüber schreibt. Mit ihr wird unweigerlich auch ihr Mann zum Gegenstand der Korrespondenz, und damit die legendäre «Operation Donner». Beide Strategen haben Marko Tironi besser gekannt, als sie sich eingestehen wollen. Das verdunkelt die Brieffreundschaft mehr und mehr.

Der Dialog der beiden Militärstrategen ist der Angelpunkt dieses beeindruckenden Romans. Dem Autor Rühmann geht es nicht darum, wer Recht behält, wie er sagt, «sondern um die Erkenntnis, dass die Wahrheit letztlich eine Frage der Perspektive ist».

Sein Buch handelt von Krieg und Verbrechen und davon, wer dafür die Schuld trägt. Nicht das System, sondern die Menschen verursachen Kriege, heisst es im Buch. «Das System kann Bedingungen schaffen, in denen es leichter ist, im Mitmenschen einen Feind zu sehen und auf ihn zu schiessen», sagt der Autor.

Der Briefwechsel zwischen den beiden Befehlshabern führt direkt ins Herz des Bürgerkriegs, der nur Schurken und Helden hinterlassen hat – je nach Blickwinkel. Auch für Ana ist der General so selbstverständlich eine Lichtgestalt wie Bartok ein Verbrecher ist. Als Mitleserin ihrer Korrespondenz ist sie aber zunehmend irritiert darüber, wie sich die beiden gegenseitig ihren Respekt bezeugen.

Rühmann baut dieses Dreiecksverhältnis raffiniert auf und verzahnt die divergierenden Perspektiven gekonnt ineinander. Welche Schuld wiegt mehr: der Verstoss gegen strategische Überlegungen oder die «Kollateralschäden» unter Zivilisten? Die beiden netten Pensionäre verraten nach und nach ihre diabolisch berechnende Seite, die sie zusehends gegeneinander aufbringt.

Dem Autor ist es wichtig, dass «alle drei Figuren ihre eigene Wahrheit darlegen können», wie er betont, damit sich die Leser selbst ein Bild der Wahrheit machen können. Mit anderen Worten: «Ich gebe allen drei Figuren eine Plattform, damit sie ihre Sicht darlegen. Das schien mir beim vorliegenden Thema sehr wichtig.»

Literatur kann «heilsam» sein

Indem er die Rollen von Gut und Böse nicht im voraus klar verteilt, gelingt es ihm auf eindrückliche Weise, die Lesererwartungen zu erschüttern. Mit souveräner Geste führt sein Roman die Leserinnen und Leser in ein Labyrinth der falschen Gewissheiten, die bei detailscharfem Hinschauen allmählich verblassen. So mündet das stille Epos über den Krieg fast beiläufig in die grossen Fragen, die am Ende auch Ana zu einem dramatischen Auftritt verhelfen.

«Der Held» erzählt ein gewichtiges Thema mit überzeugender Intimität, frei von Pathos und mit grosser Nachdenklichkeit. Doch kann Literatur helfen, alte Wunden zu verarbeiten? Rühmann meint, dass Literatur auf jeden Fall «heilsam» sein könne. Sie «kann helfen, das Erlebte und das Erlittene zu verarbeiten, indem sie neue Perspektiven eröffnet. Erzählen heisst immer auch, Dinge aus einer gewissen Distanz neu zu sehen.»

Der Autor leitet daraus zudem eine Verantwortung, gar eine Pflicht für sich und sein Schreiben ab. «Literatur sollte relevant sein, sie sollte Stoffe aufgreifen, die für das Publikum von Belang sind». Dabei geht es seiner Ansicht nach aber nicht darum, die Welt schlüssig erklären zu wollen. Literatur hat vielmehr die verfänglichen Vorurteile, Floskeln und Parolen in Frage zu stellen. «Die Literatur hat die Macht (und somit auch die Pflicht), sich dieser versteinerten 'Wahrheiten' anzunehmen, um sie fiktional-spielerisch aufzuweichen.«*

*Dieser Text von Beat Mazenauer, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt- Stiftung realisiert.

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