Nadjn Dschuni Libanesin wird mit Kampf gegen religiöse Gesetze zum Symbol

AP

6.12.2019

Nadjn Dschunis kleinere Schwestern Mona (l) und Nada trauern um ihren Tod.
Nadjn Dschunis kleinere Schwestern Mona (l) und Nada trauern um ihren Tod.
Bild: Hassan Ammar/AP/dpa

Religiöse Gerichte im Libanon bevorzugen in der Regel die Männer, so beim Sorgerecht für Kinder nach Scheidungen. Eine junge Frau geht dagegen auf die Strasse und inspiriert damit andere — auch nach ihrem jähen Tod.

Als Nadjn Dschuni starb, klebte ihre Schwester eine Botschaft in einen Kleiderschrank in ihrem Elternhaus. «Sie denken, dass deine Stimme verschwunden ist», heisst es in dem von einer Familienangehörigen verfassten Schreiben. «Nadjn, wir sind deine Stimme, ruhe dich aus...Wir werden den Kampf für dich fortsetzen.»

Dschuni, eine schiitische Libanesin, war geschieden, und ein schiitisches Gericht sprach ihrem Mann das Sorgerecht für ihren Sohn zu. Sie selbst durfte nur je einen Tag in der Woche mit ihrem Kind verbringen — und litt immens darunter. «Sie sagte mir: "Mama, ich verbrenne von innen. Mein Sohn wird älter, und ich weiss nichts über ihn"», schildert ihre Mutter.

Der 4. Oktober war der letzte der raren Tage, an dem Dschuni mit ihrem Jungen zusammensein konnte: Zwei Tage später kam sie bei einem Autounfall ums Leben. Aber die 29-Jährige hinterliess ein Erbe. Seit ihr der Sohn entrissen wurde, kämpfte die junge Frau im Internet und auf der Strasse gegen das System, das ihrem Ex-Mann den Zuschlag gegeben hatte.

Meist wird zulasten der Frauen entschieden

So wurde die liebevoll Om Karam — auf Deutsch «Mutter von Karam» — genannte Dschuni für viele Frauen im Libanon zu einem Symbol. Gesetze geben religiösen Gerichten das Recht, viele Aspekte ihres Lebens zu kontrollieren, und Dschuni wagte es, offen dagegen zu rebellieren.

Das Land erlaubt es einem guten Teil seiner vielen religiösen Gruppen, Personenstandsfragen in ihren Gemeinden selbst zu regeln. Das hat zu 15 verschiedenen Arten von Gesetzesvorschriften etwa in Sachen Heirat, Scheidung und Sorgerecht geführt — meistens zulasten der Frauen. In Fällen wie dem von Dschuni sprechen die schiitischen Gerichte bei Scheidungen in der Regel den Vätern das Sorgerecht für Söhne ab dem Alter von zwei Jahren und für Töchter ab sieben Jahren zu.

Befürworter argumentieren, dass das System die Vielfalt der Glaubensrichtungen im Libanon widerspiegele. Kritiker sagen, dass es alle Frauen diskriminiere und sie je nach ihrer Religionszugehörigkeit unterschiedlich behandele. Geschiedene Sunnitinnen etwa können Söhne und Töchter bis zum Alter von zwölf Jahren in ihrer Obhut behalten.

«Frauen haben wirklich die Hauptlasten des religiös gebundenen Verwaltungssystems zu tragen», sagt Lama Fakih von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Sie spricht von «schreienden Ungerechtigkeiten», die Gewalt gegen Frauen förderten und oft dazu führten, dass das Sorgerecht für Kinder nicht dem am besten dafür geeigneten Elternteil zugesprochen werde.

Es gibt eine Reihe von Forderungen und Änderungsvorschlägen. Dazu zählen Reformen oder eine Beaufsichtigung der religiösen Gerichte, Wahlfreiheit zwischen einer zivilen oder religiösen Instanz bei Rechtsstreitigkeiten und einheitliche zivile Personenstandsregelungen für alle.

Eine Frau läuft an einem Graffiti mit der Aufschrift «Die Revolution ist eine Frau» vorbei.
Eine Frau läuft an einem Graffiti mit der Aufschrift «Die Revolution ist eine Frau» vorbei.
Bild: Hassan Ammar/AP/dpa

«Bewundernswerte Revolutionärin»

Über mehr als einen Monat andauernde Demonstrationen im Libanon haben jenen, die mehr Gerechtigkeit für Frauen wie Dschuni fordern, eine neue Plattform gegeben. Die Protestaktionen richteten sich zunächst gegen Pläne für neue Steuern und eskalierten in Rufe nach einem Abgang der gesamten libanesischen politischen Elite und dessen religiös gebundenem System der Machtteilung.

Dschuni starb, bevor diese jüngsten Proteste entbrannten. Aber ihr Gesicht und ihr Name ist wiederholt auf Plakaten und Spruchbändern von Demonstranten aufgetaucht. «Bewundernswerte Revolutionärin...deine Seele ist hier bei uns gegenwärtig», hiess es auf einem Transparent. Bei einer Gedenkfeier, die 40 Tage nach ihrem Tod abgehalten wurde, wurden auf dem Hauptplatz der Proteste in Beirut Kerzen mit ihrem Namen auf Arabisch entzündet. Dschunis Schwester Nada trug eine Anstecknadel mit der Aufschrift:«Wir können Belange der Frauenrechte nicht hinausschieben...Tod wartet nicht.»

Korruption unter Turbanen

Mitdemonstrantin Badia Fahs hat Dschuni vor Jahren erstmals getroffen — bei Protesten. Sie erinnert gut daran, wie die junge Frau Sprechchöre mit den Worten «Korruption, Korruption, es ist unter den Turbanen» anführte — ein Slogan, für den Dschuni bekannt wurde und der sich auf Vorwürfe gegen bestimmte religiöse Richter bezog. Sie sei so erstaunt gewesen, dass sie in Tränen ausgebrochen sei, sagt Fahs. «Was für eine Art, Tabus zu brechen. Ich konnte es nicht glauben. Sogar unsere Männer können nicht so reden.»

Die Mutter trauert mit einem Bild um ihre Tochter Nadjn Dschuni.
Die Mutter trauert mit einem Bild um ihre Tochter Nadjn Dschuni.
Bild: Hassan Ammar/AP/dpa

Scheich Mussaal-Sammuri, Richter an einem schiitischen Gericht, verteidigt das System. Religiöse Angelegenheiten könnten nicht dem Druck der Strasse folgen, sagt er. «Die Frage obliegt der Zufriedenheit Gottes. Gott will dieses oder will dieses nicht. Der Richter handelt nicht aus einer Laune heraus oder auf der Basis seines eigenen Wunsches.»

Ahmad Taleb, ein schiitischer Geistlicher, wirbt dagegen für eine Reform der Regeln religiöser Gerichte. Er unterstützt eine Anhebung des Mindestalters, bis zu dem Kinder in der Obhut der Mütter bleiben können, auf sieben Jahre. Auch sollten Richter die Zeitspanne verlängern können, wenn es für das Kind am besten sei. Der Religion sei nicht mit künstlichen Regeln gedient, so der Geistliche. «Religion ist im Wesentlichen Barmherzigkeit.»

Dschuni heiratete im Alter von 18 Jahren, und es gab Gewalt in der Ehe: Ihre Schwestern schildern, dass sie Blutergüsse bei ihr sahen. Dennoch ging nach der Scheidung das Sorgerecht an ihren Ex-Mann. Ihre Tochter habe im Namen aller Frauen für eine Änderung gekämpft, sagen ihre Eltern.

Sainab Kawtharani ist bereit, den Kampf fortzusetzen. «Dein Anliegen ist bei uns in guten Händen», versicherte sie bei der Gedenkfeier für Dschuni. «Wir werden bis zum Ende weitermachen.»


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