Gefährlicher Kult Madagaskars bizarres Leichenfest: Schuld an der Verbreitung der Pest?

Von Jürgen Bätz, dpa

20.9.2018

In Madagaskar mischt sich Ahnenkult mit Aberglaube. Um die Toten milde zu stimmen, werden ihre Gebeine mit einer grossen Feier aus den Grüften geholt. Das Ritual könnte auch eine Rolle bei der Verbreitung der Pest spielen.

Die Kapelle unterbricht ihre fröhliche Musik für einen Trommelwirbel. Alle Augen sind nun auf die Familiengruft gerichtet: Das schwere Betontor der Gruft öffnet sich langsam, jetzt ist es Zeit, die Gebeine der Vorfahren herauszuholen. Als die Dorfbewohner die ersten sterblichen Überreste ans Licht bringen, geht ein Freudenschrei durch die Menge. Die Musikanten setzen wieder ein. Familienmitglieder legen die in weisse Leichentücher gewickelten Gebeine in Strohmatten. Dann schultern sie die Gebeine und tanzen fröhlich im Takt der Musik um die Gruft herum.

Beim Leichenfest «Famadihana» (wörtlich: Umdrehen der Knochen) werden die Gebeine der Vorfahren exhumiert, freudig zur Schau gestellt und wieder in neue Leichentücher gewickelt. Für viele Menschen in Madagaskar ist es das wichtigste Ritual der Ahnenverehrung, für Kritiker hingegen ist es ein Zeugnis von Aberglaube und Heidentum. Forscher warnen, das Ritual könne einer der Gründe sein, wieso sich auf der Insel vor der Südostküste Afrikas die Pest hartnäckig hält.

«Mit der "Famadihana" erweisen wir unseren Ahnen Respekt», erklärt die 60-Jährige Rasoanomenjanahary, die keinen Vornamen hat. Sie ist für die Organisation der Zeremonie ihrer Familie zuständig. «Die Ahnen wachen über ihre Nachfahren, deswegen bitten wir um ihren Segen und ihren Schutz», sagt sie. Rund 300 Angehörige und Anwohner haben sich für die «Famadihana» im Dorf Masiniloharano an der Gruft versammelt. Für die Familien sind die Leichenfeste - die normalerweise alle sieben Jahre stattfinden - Pflichttermine.

Mit Rum und Musik zu den Ahnen

Das Dorf liegt in den Hügeln des zentralen Hochlands, rund eine Autostunde von der Stadt Antsirabe entfernt. Dorthin führt nur ein buckliger Feldweg, hier gibt es weder Strom noch fliessend Wasser. Ochsenkarren sieht man häufiger als Autos. Jetzt im Winter auf der Südhalbkugel sieht man viele Bauern ihre Reisfelder mühsam mit dem Spaten pflügen.

An der Gruft wird inzwischen so freudig zur Musik getanzt und gestampft, dass vom sandigen Boden Staubwolken aufsteigen, die rasch alle Feiernden einhüllen. In der Luft mischt sich der Staub mit dem süsslichen Duft des im Dorf selbst gemachten Rums, genannt «toaka gasy». Der wird freizügig genossen und heizt die Stimmung weiter an.

Die Ahnen, genannt «Razana», werden in Madagaskar wie Heilige verehrt, wie der Historiker Mahery Andrianahaga erklärt. «Sie sind nicht nur Knochen. Sie gelten als Menschen, die immer noch da sind und eine wichtige Rolle spielen», so Andrianahaga. Die «Famadihana» sei nötig, um den Ahnen Respekt zu zollen, denn sie seien ein Bindeglied zwischen Gott und dem Hier und Jetzt. «Der Schutz der Ahnen garantiert den Menschen ein friedliches und erfülltes Leben.»

Tausende Zeremonien jährlich

Das Ritual wird in Madagaskar vor allem von den Ethnien der Betsileo und Merne praktiziert. Experten schätzen, dass es landesweit jährlich mindestens Hunderte, vermutlich Tausende solcher Zeremonien gibt. Obwohl dabei oft zu Lebzeiten innig geliebte Familienmitglieder exhumiert werden, wird keine Trauer geduldet. Frohsinn ist beim Wiedersehen mit den Ahnen Pflicht. Trauern, Weinen - oder gar mit anderen Familienmitgliedern streiten - gelten als schlechtes Omen.

Die Musikanten legen sich wieder ins Zeug. Nach und nach holen die Angehörigen die Gebeine aus der Betongruft, die ein bisschen aussieht wie ein solides Gartenhaus. Jedes der weissen Bündel enthält die sterblichen Überreste eines Vorfahren. Die Angehörigen schultern die Bündel und bringen sie auf die Rückseite der Gruft. Dort werden sie nebeneinander aufgereiht. Was ein bisschen wie die makabere Enthüllung eines Massengrabs wirkt, markiert in Wirklichkeit den Höhepunkt der Zeremonie. Hier werden die Ahnen vorsichtig in neue Nylon-Leichentücher gewickelt. Rund um die Szene stehen - Körper an Körper gedrückt - Angehörige und die Dorfkinder, die wie in Trance auf die Bündel mit den Gebeinen starren.

Das arme Madagaskar ist eine bunte Mischung aus Afrika und Asien - wegen der früheren Kolonialmacht auch gemischt mit einer Prise französischem Charme. Viele Menschen stammen von asiatischen Einwanderern ab. Experten gehen davon aus, dass auch die Tradition der «Famadihana» vor vielen Hundert Jahren von Einwanderern aus dem heutigen Malaysia und Indonesien begonnen wurde, wie der Anthropologe Michael Randriamaniraka erklärt. Ähnliche Rituale, während derer Ahnen exhumiert werden, gebe es bis heute zum Beispiel beim Volk der Toraja auf der indonesischen Insel Sulawesi, schildert er.

Feierlichkeiten dauern mehrere Tage

Die Vorbereitungen für eine «Famadihana» beginnen in der Regel schon im Vorjahr. Die Familie verständigt sich auf ein Budget und ein ungefähres Datum. Dann wird für die oftmals mehrtägige und kostspielige Feierlichkeit gespart. Der genaue Termin der «Famadihana» kann erst wenige Wochen im Voraus festgelegt werden - und das nur vom Dorfastrologen, dem sogenannten Mpanandro, der auch als Heiler fungiert. «Sonst könnte es ein Unglück geben. Die Gruft könnte Menschen in den Tod reissen», erklärt der örtliche Astrologe Jean-Pierre Ralaizandry (75). «Da ist eine mysteriöse Kraft am Werk.»

Die katholische Kirche hat sich in Madagaskar mit dem Ahnenkult arrangiert, denn die Verehrung von Heiligen hat dort schon immer eine grosse Rolle gespielt. Bei Protestanten und Evangelikalen hingegen wird der Brauch abgelehnt. Zum Beispiel von Pastor Irako Andriamahazosoa Ammi, dem Präsidenten der Jesus-Christus-Kirche in Madagaskar. Er erklärt, der Glaube, dass Ahnen ihre Nachfahren segnen und beschützen könnten, stehe im Widerspruch zur christlichen Lehre, wonach die Auferstehung Jesus Christus' die Quelle des Heils sei. «Wir sagen den Menschen, dass sie sich entscheiden müssen zwischen ihren Ahnen, die tot sind, und Jesus Christus, der auferstanden ist.»

Doch gegen Tradition und Aberglauben hat die reine Lehre oft einen schweren Stand. Rasoanomenjanaharys Familie ist protestantisch, doch sie lassen sich die «Famadihana» nicht vom örtlichen Pastor verbieten. «Er kann da nichts machen. Wenn er zu streng wäre, käme einfach keiner mehr in die Kirche», sagt sie. Viele halten auch daran fest, weil sie fürchten, die Ahnen könnten ihnen sonst zürnen.

Am Tag vor der Zeremonie hatte die Familie damit begonnen, Schweine zu schlachten und 25 Kilogramm Reis zu kochen, damit alle Gäste verköstigt werden können. Am Vorabend verwandelte sich dann der staubige Hof des Familienhauses in ein kleines Volksfest: Anwohner stellten kleine Tische auf und verkauften Getränke, die Gastgeber mieteten für den Abend sowohl über zwei Meter hohe Boxen als auch einen DJ an. Bis tief in die Nacht wurde ausgelassen gefeiert. Neben madagassischem Pop dröhnten auch englische Gassenhauer aus den Boxen. Der Refrain eines Songs - «Sexy, sexy, sexy» - war bis zum Hügel über dem Ort zu hören, wo die Familiengruft auf ihren grossen Tag wartete.

Die Pest ist auf Madagaskar nicht ausgerottet

Insgesamt scheint die Tradition der «Famadihana» aber auf dem Rückzug. Mehr und mehr Menschen leben in Städten und sehen das Ritual als ein kostspieliges Relikt früherer Generationen, klagen Experten. «Ich fürchte, dass es in 25 Jahren weniger eine Glaubenssache als ein Folklore-Event sein wird», sagt der Anthropologe Michael Randriamaniraka. Die 15-jährige Schülerin Mendrikiniaina Zafiarisoa, die mit ihren Eltern zur «Famadihana» in Masiniloharano gekommen ist, bestätigt seine Befürchtung. «Ich mag die Stimmung und die Musik gerne, aber ich finde die ganze Organisation schrecklich.» Sie fügt hinzu: «Für die "Famadihana" wird auch viel zu viel Geld ausgegeben.»

Einen dunklen Schatten auf die «Famadihana» wirft die in Madagaskar noch immer nicht ausgerottete Pest. Manche Experten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mutmassen, das Ritual spiele eine Rolle bei der Verbreitung des Pest-Bakteriums, denn rund um die Zeremonien kommt es immer wieder zu Pest-Ausbrüchen. Pesttote müssen mit einer Chlorlösung gewaschen und mit Kalk eingerieben werden. Sie dürfen nicht in der Familiengruft beerdigt werden, sondern müssen weit weg von Friedhöfen vergraben werden. Für die auf Ahnenverehrung fixierten Angehörigen bedeutet das zusätzlichen Schmerz, deswegen wird die Regel wohl nicht immer beachtet.

Hinter der Gruft in Masiniloharano sind die Gebeine nun neu verpackt, die weissen Bündel glänzen in der Abendsonne. Angehörige nutzen Kugelschreiber, um die Namen der Verstorbenen darauf zu schreiben, denn sonst weiss bei der nächsten Exhumierung keiner mehr, welches Bündel welcher Ahne ist. Familienmitglieder machen den Vorfahren noch Geschenke - einige bespritzen sie zum Beispiel mit Coca Cola oder Rum, um sich ihre Gunst zu sichern. Kurz vor Sonnenuntergang verstummt die Kapelle, die zweitägige Feier löst sich auf. Es werden noch Fotos mit den Gebeinen der Angehörigen gemacht, dann heisst es Abschied nehmen - zumindest bis zur nächsten «Famadihana».

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