Überschwemmungen in Libyen Griechische Nothelfer tödlich verunglückt – weitere Dämme in Gefahr

Von Ashraf Azzabi, Ramadan Al-Fatash, Weedah Hamzah, Lars Nicolaysen und Christiane Oelrich, dpa

18.9.2023 - 04:24

Nach der Flut in Libyen: «Wir haben die Leichen unserer Nachbarn gefunden»

Nach der Flut in Libyen: «Wir haben die Leichen unserer Nachbarn gefunden»

STORY: Mit Hoffnung kehrten Ilham al-Thibyani und ihr Mann Hassan Awad in ihr Haus im libyschen Derna zurück, Tage nachdem die Flut weite Teile der Küstenstadt verwüstet hatte. Doch dann wird klar: Ihr Heim ist verwüstet. Ilham al-Thibyani / Einwohnerin von Derna «Ein Lebenstraum, den mein Mann und ich Schritt für Schritt aufgebaut haben. Ich habe meine Kinder hier grossgezogen. Ich war froh, dass die Hochzeit meines Sohnes bevorstand.» Sie fühle sich hilflos und könne nur beten, so sagt sie. Um dem Tod zu entgehen, stieg die Familie auf das Dach ihres Hauses und blieb dort, bis das Wasser zurückging. Aber ihre Nachbarn hatten nicht so viel Glück. Hassan Awad / Einwohner von Derna «Wir haben Leichen von Freunden, Nachbarn und Angehörigen gefunden, ich kann es mir nicht erklären.» Ganze Bezirke von Derna mit einer geschätzten Bevölkerung von mindestens 120.000 Einwohnern wurden weggeschwemmt oder unter braunem Schlamm begraben, nachdem zwei Dämme südlich der Stadt gebrochen waren und Sturzfluten in ein sonst trockenes Flussbett strömten. Staatliche Medien gaben an, in der Stadt seien mindestens 891 Gebäude zerstört worden, der Bürgermeister sagte, 20.000 Menschen seien möglicherweise gestorben.

18.09.2023

Es bleibt schwierig, die Menschen im Katastrophengebiet in Libyen mit Hilfsgütern zu erreichen. Ein tödlicher Unfall mit Nothelfern überschattet den Hilfseinsatz. Nun warnen die UN vor einer prekären Lage.

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • In Libyen sind eine Woche nach der verheerenden Sturm- und Dammbruchkatastrophe womöglich zwei weitere Dämme in Gefahr.
  • Bei einem Autounfall sind mindestens vier griechische Nothelfer und drei Angehörige einer libyschen Familie ums Leben gekommen.
  • Die Verzweiflung bei den Bewohnern ist weiter gross. Zehntausende Menschen warten weiter auf Nachricht über ihre vermissten Angehörigen und auf Hilfe in der Not.
  • Die Opferzahlen sind auch eine Woche nach der Katastrophe weiter unklar. Das UN-Nothilfebüro (OCHA) sprach zunächst von rund 11’300 Toten in Darna und weiteren 10’100 Vermissten. In einer späteren Version des Lageberichts liess OCHA diese Angaben wieder fallen.
  • Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurden bis Ende vergangener Woche rund 4000 Todesopfer identifiziert und mit Totenscheinen registriert.
  • Nach Schätzungen der UN-Organisation für Migration (IOM) haben insgesamt mehr als 40’000 Menschen ihre Bleibe verloren. Die Zahl liege wahrscheinlich deutlich höher.
  • Ägypten hat einen Flugzeugträger zur medizinischen Versorgung von Opfern geschickt.

In Libyen sind eine Woche nach der verheerenden Sturm- und Dammbruchkatastrophe womöglich zwei weitere Dämme in Gefahr. Das UN-Nothilfebüro OCHA äusserte gestern Abend Sorge über den Dschasa-Damm zwischen der teils zerstörten Stadt Darna und Bengasi und den Kattara-Damm nahe Bengasi.

Berichte über die Lage seien widersprüchlich. Nach Angaben der Behörden seien beide Dämme in gutem Zustand und funktionierten. Am Dschasa-Damm würden nach Angaben der Behörden Pumpen installiert, um den Druck von der Staumauer zu nehmen, so OCHA.

Zwei Dammbrüche hatten in der Nacht zu vergangenen Montag in der Hafenstadt Darna schlimmste Zerstörungen angerichtet. Tausende Menschen sind ums Leben gekommen, Tausende werden noch vermisst. Genaue Zahlen haben die Behörden bislang nicht. Die Stadt hatte vor der Katastrophe rund 100’000 Einwohner.

Ein beim Sturm und den Fluten zerstörtes Viertel in der ostlibyschen Stadt Darna. (17. September 2023)
Ein beim Sturm und den Fluten zerstörtes Viertel in der ostlibyschen Stadt Darna. (17. September 2023)
Bild: Keystone/EPA/STR

Rettungsarbeiten durch schweren Unfall überschattet

Die Rettungsarbeiten wurden gestern durch einen schweren Unfall überschattet: Mindestens vier griechische Nothelfer und drei Angehörige einer libyschen Familie kamen dabei nach Angaben der Behörden in Ostlibyen ums Leben. 19 griechische Retter waren auf dem Weg nach Darna, als ihr Kleinbus mit dem Wagen einer fünfköpfigen Familie zusammenstiess. 15 Personen wurden teils schwer verletzt.

Die Verzweiflung bei den Bewohnern ist weiter gross. Zehntausende Menschen warten weiter auf Nachricht über ihre vermissten Angehörigen und auf Hilfe in der Not. Nach Angaben einer BBC-Reporterin hängt der durchdringende Geruch von verwesenden Leichen über Darna. Am Strand türmten sich Betonteile, Reifen, Kühlschränke und Autos, die mit Wucht ins Meer gespült und dann wieder angeschwemmt worden waren. Aus den Schuttbergen würden immer noch Tote geborgen. Nach Angaben von Taufik al-Schukri, dem Sprecher des Roten Halbmonds, sind aber am Samstag aus eingestürzten Gebäuden auch noch Überlebende geborgen worden. Wie viele, konnte er im Gespräch mit dpa nicht sagen.

Ägypten schickt Flugzeugträger

Ägypten schickte unterdessen einen Flugzeugträger zur medizinischen Versorgung von Opfern. Wie der staatliche Informationsdienst Ägyptens bekanntgab, traf der Flugzeugträger «Mistral» gestern (Ortszeit) in Libyen ein, wo er die Einsatzkräfte als schwimmendes Krankenhaus unterstützen soll. Auch die libysche Online-Zeitung «The Libya Observer» berichtete unter Berufung auf ägyptische Medien über über die Ankunft. Demnach verfügt das Schiff über eine 900 Quadratmeter grosse Klinik samt moderner Operationssäle.

Die Opferzahlen sind auch eine Woche nach der Katastrophe weiter unklar. Das UN-Nothilfebüro (OCHA) sprach am Wochenende zunächst von rund 11’300 Toten in Darna und weiteren 10’100 Vermissten. Zudem seien 170 Todesfälle aus anderen Regionen im Osten des Landes gemeldet worden. OCHA bezog sich auf den Roten Halbmond, wie Rotkreuzgesellschaften in muslimischen Ländern oft heissen. Der Sprecher des Roten Halbmonds sagte aber, er wisse nicht, woher die Zahlen stammten. In einer späteren Version des Lageberichts liess OCHA diese Angaben wieder fallen. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurden bis Ende vergangener Woche rund 4000 Todesopfer identifiziert und mit Totenscheinen registriert.

Viele Strassen und Brücken sind zerstört

Zwar treffen in dem armen, vom jahrelangen Bürgerkrieg gezeichneten nordafrikanischen Land über den Flughafen Bengasi immer mehr Hilfsgüter ein. Aber von dort ins Katastrophengebiet sind es Hunderte Kilometer. Viele Strassen und Brücken sind zerstört und Konvois mit Hilfsgütern bleiben in kilometerlangen Staus stecken, wie Caroline Holt, globale Einsatzleiterin der Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften, auf der Plattform X (früher Twitter) berichtete. Die Verteilung von Essen, Medikamenten, Planen und anderem bleibt schwierig. Helfer dringen nach Angaben von Ärzte ohne Grenzen darauf, dass die Einsätze besser koordiniert werden.

Die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) ist durchgekommen. Sie verteilte in Kooperation mit den Gemeinden in den Orten Shahat und Bayda Babynahrung, Zelte, Generatoren, Decken und Wasser, wie der deutsche Botschafter in Libyen, Michael Ohnmacht, auf X berichtete.

Mehr als 40’000 Menschen ohne Bleibe

Nach Schätzungen der UN-Organisation für Migration (IOM) haben insgesamt mehr als 40’000 Menschen ihre Bleibe verloren. Die Zahl liege wahrscheinlich deutlich höher. In vielen der schwer getroffenen Gebiete seien noch keine Zählungen möglich gewesen.

Aus Sorge über die Ausbreitung von Krankheiten wie Cholera wies die Regierung in der Hauptstadt Tripolis die Wasserwerke an, Trinkwasser zu verteilen. Bis Samstag wurden etwa 150 Durchfallerkrankungen gemeldet durch verschmutztes Trinkwasser gemeldet, sagte der Leiter des Zentrums für Krankheitsbekämpfung, Haidar al-Sajih.

Der libysche Staatsanwalt Al-Sedik al-Sur hat wegen der Dammbrüche Ermittlungen aufgenommen. Die Dämme sollen Risse gehabt haben, und es soll Geld für die Instandhaltung bereitgestellt worden sein. Der Staatsanwalt will den Verbleib der Gelder nun klären, wie er sagte.

Von Ashraf Azzabi, Ramadan Al-Fatash, Weedah Hamzah, Lars Nicolaysen und Christiane Oelrich, dpa