Springreiter vor Gericht «Reiten ist mein Leben, jetzt stehe ich da wie ein Tierquäler»

Von Julia Käser, Luzern

15.12.2020

Springreiter Paul Estermann (links) und sein Anwalt auf dem Weg zum Berufungsprozess am Kantonsgericht Luzern.
Springreiter Paul Estermann (links) und sein Anwalt auf dem Weg zum Berufungsprozess am Kantonsgericht Luzern.
Bild: Keystone

Springreiter Paul Estermann musste sich am Dienstag erneut wegen Tierquälerei vor Gericht verantworten. Während sein Verteidiger auf Freispruch plädierte, forderte die Staatsanwaltschaft, das Strafmass zu erhöhen. 

«Ich weiss nicht, wie meine Geschichte weitergeht», sagte Springreiter Paul Estermann am Dienstagmorgen vor dem Kantonsgericht Luzern. Sein grosses Ziel wäre eine erneute Olympiateilnahme gewesen, doch nun kam alles anders für den Mann im dunklen Sakko und weissen Hemd. 

Vor einem Jahr war Estermann in erster Instanz der mehrfachen vorsätzlichen Tierquälerei schuldig gesprochen worden. Er soll zwei Pferde mit der Peitsche teilweise blutig geschlagen haben. Weil Estermann und sein Verteidiger gegen das Urteil Berufung eingelegt hatten, befasste sich das Kantonsgericht am Dienstag mit dem Fall.

Estermanns Leben hat sich seit dem ersten Prozess verändert. «Ich habe Kunden verloren», gab der Leiter eines Reitzentrums vor dem Kantonsgericht an. Vom Verband für Pferdesport sei ihm den Verzicht aufs Springreiten nahegelegt worden und nicht zuletzt habe er seinen Rücktritt aus dem Schweizer Elitekader geben müssen.

«Es gehört eine Peitsche zum Reiter»

Dennoch: Auf die Frage des zuständigen Staatsanwalts, ob er im Wissen um das Verfahren gegen ihn heute etwas anders machen würde, antwortete der Beschuldigte mit einem deutlichen Nein. Er bestritt, die beiden Pferde mit der Peitsche unnötig stark traktiert, geschweige denn blutig geschlagen zu haben.

Den grundsätzlichen Einsatz einer Peitsche hingegen verteidigte Estermann: «Es gehört eine Peitsche zum Reiter.» Die Dressurpeitsche verwende man, um die Tiere zu motivieren, erklärte er. «Das ist zur Unterstützung und hat nichts mit draufschlagen zu tun.» Ein wirksames Mittel, um ein Pferd zu besonderen Leistungen anzutreiben ist die Peitsche laut dem Olympia-Reiter aber nicht: «Pferde sind zu sensibel.» 

Eines der betroffenen Tiere, die Stute «Castlefield Eclipse», sei ein routiniertes, ruhiges Pferd gewesen. Estermann konnte sich nicht daran erinnern im Umgang mit ihr jemals eine Peitsche eingesetzt zu haben. Anders beim Wallach «Lord Pepsi», den der Springreiter als schwierig beschrieb. Er sei schreckhaft und scheu. Mache solch ein Tier einen Fehler, sei es hilfreich, ihm «einen kleinen Klaps zu geben», um den Fehler unverzüglich zu korrigieren.

Woher die Verletzungen, insbesondere jene der Stute stammen, konnte Estermann sich auch nach mehrmaligen Nachfragen nicht erklären. Seine Einsätze der Peitsche hätten niemals Spuren hinterlassen. Auch dass an der Peitsche ein Filzli abgefallen sei, schloss der Beschuldigte aus. 

Verteidigung brachte neue Beweise ins Spiel

Bei dieser Aussage blieb er die ganze Verhandlung über. Diese dauerte rund fünf Stunden und wurde mehrmals unterbrochen. Zuerst um die Verwertbarkeit der Fotos und Zeugenaussagen zu überprüfen, die durch die Verteidigung infrage gestellt wurde. Das Gericht liess sowohl die Bilder als auch die Zeugenaussagen zu. 

Paul Estermann mit dem Pferd «Lord Pepsi» im Einsatz: Auch den Wallach soll Estermann mit der Peitsche geschlagen haben, bis dieser Hautverletzungen aufwies. 
Paul Estermann mit dem Pferd «Lord Pepsi» im Einsatz: Auch den Wallach soll Estermann mit der Peitsche geschlagen haben, bis dieser Hautverletzungen aufwies. 
Bild: Keystone

Eine weitere Unterbrechung erfolgte aufgrund eines neuen Beweises, den die Verteidigung ins Spiel brachte. Dabei handelte es sich um ein Gutachten, das ein Tierarzt und Bekannter von Estermann verfasst hatte. Darin wurde vor allem die Frage aufgeworfen, ob die Verletzungen von «Castlefield Eclipse» so schnell hätte abheilen können, wie das ein durch die erste Instanz befragter Tierarzt und Zeuge festgestellt hatte.

Während seinem Plädoyer machte der Verteidiger deutlich, dass eine so schnelle Wundheilung gemäss dem Gutachten kaum möglich sei. Er stellte deshalb die Echtheit der von einem Zeugen und ehemaligen Angestellten Estermanns geschossenen Fotos infrage. Aufgrund fehlender Metadaten liesse sich das Ursprungsdatum nicht feststellen. Es sei zudem nicht bewiesen, dass sie das Leib von «Castlefield Eclipse» zeigten. Und: Solche Verletzungen liessen sich auch mit Photoshop ins Bild einfügen.

«Sündenbock einer angeblich verpönten Sportart»

Weiter zweifelte die Verteidigung die Glaubhaftigkeit mehrere Zeugen an. So habe im Speziellen der ehemalige Pferdepfleger, der auch die Fotos geschossen hatte, ein Interesse daran gehabt, Paul Estermann zu schaden. Der Mann hatte dem Springreiter zuvor über 2000 Franken gestohlen, worauf dieser ihn anzeigte. «Es ging ihm nur vordergründig ums Tierwohl», so der Verteidiger.

Schliesslich äusserte der Verteidiger Misstrauen an der Unparteilichkeit des Richters in der ersten Instanz. Dieser habe sich durch die reisserische Medienberichterstattung leiten lassen und sich generell negativ über den Reitsport geäussert. Der Beschuldigte sei «zum Sündenbock einer angeblich verpönten Sportart abgestempelt worden» und stehe sinnbildlich für angebliche Exzesse im internationalen Reitsport. Der Verteidiger plädierte nach dem Grundsatz in dubio pro reo auf Freispruch. 

Ganz anders der zuständige Staatsanwalt. Weil Estermann keine Spur von Reue oder Einsicht zeige, verlangt er, dass das erstinstanzliche Urteil von 100 Tagessätze zu je 160 Franken und einer Busse von 4000 Franken erhöht wird – um 20 weitere Tagessätze und zusätzliche 800 Franken Busse. Tierquälerei sei keine Bagatelle. «Zu milde oder gar keine Strafen sind eine Einladung zum Weitermachen.»

«Auch ein Dieb kann die Wahrheit sagen»

Estermann und sein Verteidiger hätten einen regelrechten Feldzug gegen sämtliche mit dem Fall vertrauten Personen geführt, so der Staatsanwalt. Die Behörden seien diskreditiert und die Ermittlungen torpediert worden. Bis auf eine Ausnahme seien alle Zeugenaussagen widerspruchsfrei. Seiner Ansicht nach hatte der ehemalige Angestellte keinen einleuchtenden Grund, sich an Estermann zu rächen, da dieser zuletzt gewillt gewesen sei, sich zu einigen. «Auch ein – nota bene reuiger und geständiger – Dieb kann die Wahrheit sagen.»

Dass sich die Erstinstanz durch die Medienberichte habe leiten lassen, liess der Staatsanwalt ebenfalls nicht gelten. Das Medieninteresse habe sich grösstenteils erst nach der erstinstanzlichen Verurteilung eingestellt. «Ein solches Interesse erhöht auch den Druck auf die exponierten Richterpersonen, über deren Arbeit genauso kritisch berichtet wird, wie über den Beschuldigten selbst.»

Bezogen auf die Fotos, die den Fall ins Rollen gebracht hatten, gab der Staatsanwalt an, diese würden wahrscheinlich das Leib von «Castlefield Eclipse» zeigen. Zudem seien sie nicht der wesentliche Beweis. Die erstinstanzliche Verurteilung gründe auf den Aussagen und dem Bericht des Tierarztes sowie den Zeugenaussagen. 

«Reiten ist mein Leben», sagte Estermann am Ende der Verhandlung. Und weiter: «Jetzt stehe ich da wie ein Tierquäler – ich verstehe es nicht.»

Das Urteil des Kantonsgerichts soll frühestens Mitte Januar erwartet und schriftlich bekanntgegeben. 

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