Brasilien Der Cristo in Rio wird 90 – und bleibt immer jung

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12.10.2021 - 00:00

Luftaufnahme der Statue «Cristo Redentor» (Christus der Erlöser). Tausende Touristen besuchten die Statue vor der Corona-Pandemie täglich.
Luftaufnahme der Statue «Cristo Redentor» (Christus der Erlöser). Tausende Touristen besuchten die Statue vor der Corona-Pandemie täglich.
Fernando Souza/dpa (Archivbild)

Die Christus-Statue ist als Symbol für Rio de Janeiro weltbekannt. Seit 90 Jahren trohnt das Monument über der Stadt, die sich in all der Zeit sehr verändert hat. Nicht nur zum Guten. Das weiss auch das «Girl from Ipanema».

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Der Zuckerhut und die Christus-Statue sind die ersten, die den Blick auf Rio de Janeiro einfangen. Doch der Christus steht auf dem Corcovado-Berg noch eine Stufe höher. Dort wollen fast alle Besucher Rios so bald wie möglich hinauf. Tausende Touristen besuchten die Statue vor der Corona-Pandemie täglich. Doch im «Trem do Corcovado», der Bergbahn bis etwas unterhalb der Christus-Statue, ist derzeit viel Platz. Unter den typischen «Cariocas», den Bewohnern Rios, waren die meisten entweder noch nicht auf dem Zuckerhut oder dem Cristo.

Die Aussicht auf die zwischen Bergen und Meer gelegene Stadt ist von dort aus noch etwas beeindruckender, atemberaubender als vom Zuckerhut. Zudem bekommt man einen guten Eindruck von der Gliederung der Metropole. Die Südzone mit Copacabana und Ipanema, der Norden mit dem Maracanã-Stadion, das Zentrum mit den Gebäuden der brasilianischen Moderne – schicke Viertel am Strand und Favelas, die sich an Hügeln hinaufziehen. Was der Christus, der am 12. Oktober 90 wird, in diesen Jahren schon alles gesehen hat. Ob er zu seinem Geburtstag lacht oder weint?



Während in einer europäischen Stadt wie etwa Wien von damals bis heute viel gleich geblieben sein mag, wie zum Beispiel die traditionellen Kaffeehäuser, hat Rio gleich mehrere Verwandlungen hinter sich. Alte Häuser wurden abgerissen und neue, hohe Gebäude gebaut und ganze Viertel dem Erdboden gleichgemacht. Andere entstanden. Das Alte, es wird in Rio und Brasilien kaum geschätzt und bewahrt. Das Neue, die Zukunft, das ist das, was zählt. Könnte der Christus sprechen, würde er uns viel erzählen.

Immer mit offenen Armen

Dabei steht der «Cristo Redentor» (Christus der Erlöser) immer mit offenen Armen da – nicht nur für Rio, nicht für Brasilien, sondern für die ganze Welt. 30 Meter weit sind die Arme ausgestreckt. «Man sagt, Gott sei Brasilianer, und so wählte Jesus Christus Rio, um alle mit seinen offenen Armen zu segnen», sagt das «Girl from Ipanema», Helô Pinheiro, die in den 60er Jahren als Schulmädchen zu dem berühmten Song inspirierte, wie sie der Deutschen Presse-Agentur sagte. Später arbeitete sie erfolgreich als Model.

Cariocas wie sie sind dankbar, dass sie zur Christus-Statue aufschauen können, die nahezu von jedem Punkt der Stadt aus zu sehen ist. Manchmal taucht sie auch plötzlich zwischen zwei Gebäuden auf – nach einer Kurve oder aus den Wolken. Und auch wenn es in der Stadt hoch hergeht, der Christus bleibt auf dem Corcovado-Berg und schaut auf die Cariocas – die Bewohner Rios.

Omar Raposo (M.), als «Padre Omar» bekannter Priester der katholischen Kirche, feiert einen Gottesdienst mit Schutzanzug, Gummihandschuhen und Gasmaske inmitten der Corona-Pandemie zum Gedenken an die Corona-Opfer am Fusse der Christus-Statue.
Omar Raposo (M.), als «Padre Omar» bekannter Priester der katholischen Kirche, feiert einen Gottesdienst mit Schutzanzug, Gummihandschuhen und Gasmaske inmitten der Corona-Pandemie zum Gedenken an die Corona-Opfer am Fusse der Christus-Statue.
Fabio Teixeira/Zuma Press/dpa

Vielleicht kommt daher die gute Laune der Städter, die sich ihres Sonderstatus durchaus bewusst sind. «Rio ist eine wunderbare Stadt, die nur von Gott gesegnet und von Natur aus schön sein kann...», sagt Helô Pinheiro und zitiert eine Zeile aus dem Song «Pais Tropical» des brasilianischen Sängers Jorge Ben Jor, Legende des Sambarock.

Auch der 710 Meter hohe Corcovado-Berg ist vom tropisch-üppigen Stadtwald «Floresta da Tijuca» umgeben. Zu ihrem 75. Geburtstag im Jahr 2006 wurde die Christus-Statue zur Heiligenstätte der katholischen Kirche erklärt. In einer Kapelle auf der Rückseite des Fusses der Statue finden unter anderem Taufen und Hochzeiten statt. Padre Omar Raposo, ein Popstar unter den Pfarrern Rios, leitet das «Santuário Cristo Redentor» seit rund 15 Jahren.

Der brasilianischen Ingenieur Heitor da Silva Costa und der französische Bildhauer Paul Landowski gelten als Väter des Monuments, um das sich viele Legenden ranken. Als er anfing, für die Biografie über die Christus-Statue, eines der sieben Weltwunder, zu recherchieren, stiess der Journalist Rodrigo Alvarez auf eine Geschichte voller Mythen und Lücken, wie er in einer Live-Übertragung zum Erscheinen des Buches «Redentor» in der vergangenen Woche sagte. «Ich habe eine Menge Unsinn entdeckt.»

Nicht einmal die katholische Kirche, auf deren Initiative der Wettbewerb für die monumentale Statue in den 1920er Jahren ausgeschrieben wurde, habe gewusst, dass Prinzessin Isabel von Brasilien bereits 1888 ein Christus auf dem Corcovado vorschwebte.

Der Cristo ist nie fertig

Fakt ist, dass die Bauarbeiten nach mehreren Jahren beendet wurden und die Beton- und Speckstein-Statue am 12. Oktober 1931, dem Tag der Schutzpatronin Brasiliens, «Nossa Senhora da Aparecida» (Unsere liebe erschienene Jungfrau), eingeweiht wurde.



Aber der Cristo ist nie fertig – er wird immer anders geschmückt und beleuchtet. An Weihnachten etwa bekommt er eine spezielle Illumination, aber auch im Brustkrebsmonat wird er Rosa angestrahlt. Zum Finale der Copa Libertadores – dem wichtigsten südamerikanischen Fussballturniers – «trägt» er das Trikot des Fussballclubs Flamengo Rio de Janeiro.

Touristen drängen sich zu seinen Füssen, ein Blitz schlägt in seinen Finger ein, Helikopter umfliegen ihn. Bisweilen hört er auch Schüsse. Oder ist es ein Feuerwerk?

Kriminalität und Gewalt, der Niedergang Rio de Janeiros nach dem Wechsel der Hauptstadt nach Brasília 1960, die Krise nach den Olympischen Spielen in Rio 2016, die zunehmenden Armut in der Corona-Pandemie – wenn es nach dem «Girl from Ipanema» geht, dann ist dem Cristo zu seinem Geburtstag mehr zum Weinen als zum Lachen zumute. «Ich glaube, dass ich seit einigen Jahren wirklich traurig bin wegen der Pandemie, der unruhigen Politik, der Umweltprobleme und des Mangels an Liebe für andere», sagt Helô Pinheiro.

Aber dennoch sorgt der Christus für die Stadt, überwacht die Metropole, segnet sie. Die Cariocas verehren das Wahrzeichen sehr. Sie freuen sich seit 90 Jahren über die Existenz ihres Beschützers.