Nach 20 Jahren Wegen Mordes an ihren Kindern inhaftierte Australierin wird begnadigt

Von Jan-Niklas Jäger

5.6.2023

Kathleen Folbigg galt nach dem Tod ihrer vier Kinder als «schlimmste Serienmörderin Australiens». Sie war vermutlich unschuldig.
Kathleen Folbigg galt nach dem Tod ihrer vier Kinder als «schlimmste Serienmörderin Australiens». Sie war vermutlich unschuldig.
Bild: Joel Carrett/AAPIMAGE/AP

Eine wegen des Mordes an ihren Kindern verurteilte Australierin ist nach 20 Jahren Haft begnadigt worden. Neuen Erkenntnissen zufolge sollen ihre vier Kinder eines natürlichen Todes gestorben sein.

Von Jan-Niklas Jäger

5.6.2023

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Eine Mutter, die 2003 wegen des Mordes an ihren vier Kindern schuldig gesprochen worden war, ist begnadigt worden, nachdem neue Erkenntnisse auf ihre Unschuld hingedeutet haben.
  • Zwischen 1989 und 1999 hatte die Frau vier Kind auf die Welt gebracht, die allesamt vor ihrem zweiten Geburtstag gestorben sind.
  • Die Mutter wurde wegen Mordes verurteilt, obwohl es keine Beweise für eine Fremdeinwirkung gab.
  • Stattdessen ruhte das Urteil darauf, wie unwahrscheinlich es sei, dass der plötzliche Kindstod in allen vier Fällen eingetreten sei.
  • Neue wissenschaftliche Erkenntnisse deuten auf einen natürlichen Tod aller vier Kinder hin.

Sie war die meistgehasste Frau Australiens: Am 21. Mai 2003 wurde Kathleen Folbigg des Mordes ihrer vier Kinder schuldig gesprochen. Über einen Zeitraum von elf Jahren war jedes ihrer Kinder eines unerwarteten Todes gestorben, das jüngste 19 Tage nach der Geburt, das älteste mit 18 Monaten.

Das Oberste Gericht des Bundesstaates New South Wales sah es als erwiesen an, dass die Mutter ihre Kinder aus Frustration ermordet hatte. Sie wurde zu 40 Jahren Gefängnis verurteilt, 2005 wurde die Strafe auf 30 Jahre verkürzt. Die Verurteilte hatte ihre Schuld stets bestritten.

Nun ist Kathleen Folbigg, 20 Jahre nach ihrer Verurteilung, begnadigt worden.

Keine Beweise oder Gegenbeweise

Neue wissenschaftliche Erkenntnisse deuten auf einen natürlichen Tod aller vier Kinder hin: in zwei Fällen eine genetische Mutation, in den anderen beiden eine Herzmuskelentzündung und eine neurogene Erkrankung, möglicherweise Epilepsie.

Während ihres Prozesses hatte Folbigg darauf bestanden, dass die Kinder eines natürlichen Todes gestorben sein mussten. Beweise für eine Fremdeinwirkung gab es in keinem der drei Todesfälle. Doch mit dem damaligen Stand der Wissenschaft waren auch keine natürlichen Ursachen zu erkennen.

Mord oder eine Ansammlung unglücklicher Zufälle?

Also wurde der Fall alleine an Überlegungen über die Wahrscheinlichkeiten der vorgebrachten Erklärungen aufgezogen. Dass vier Kinder hintereinander eines plötzlichen Kindstods sterben, stellte die Staatsanwaltschaft als in etwa so wahrscheinlich dar, wie «dass Schweine das Fliegen lernen könnten».

Es half Folbigg auch nicht, dass Bekannte sie als liebevolle Mutter beschrieben. Notärzt*innen und Polizist*innen fanden ihr Verhalten, als sie vor Ort eintrafen, ebenfalls unverdächtig.

Doch die Anklageschrift stützte sich auf der Maxime des Kinderarztes Roy Meadow, genannt «Meadows Gesetz»: «Ein plötzlicher Kindstod ist eine Tragödie, zwei sind verdächtig und drei sind Mord, bis das Gegenteil bewiesen wurde.»

Unschuldsvermutung infrage gestellt

Damit war die Unschuldsvermutung bereits in der Anklage diskreditiert worden. Die Beweislast lag bei der Angeklagten. Meadows Gesetz ist inzwischen längst als unbrauchbar erklärt worden. 2005 war ihm sogar kurzzeitig die Lizenz entzogen worden, weil er irreführende Beweisführungen zu verantworten hätte.

Zum Verhängnis wurde Folbigg ausserdem, dass ihr Ex-Mann – der Vater der Kinder – ihr Tagebuch bei der Polizei einreichte. Darin fanden sich Passagen, die sich als Schuldeingeständnisse deuten liessen.

Die Verteidigung argumentierte, es könne sich genauso gut um Selbstvorwürfe einer trauernden Mutter handeln und verwies auf andere Einträge, die stattdessen ihre Fürsorglichkeit zeigten.

Ihr Vater ermordete ihre Mutter

Der Fall schlug hohe Wellen in Australien. Folbigg wurde als «schlimmste Serienmörderin Australien» berüchtigt. Als bekannt wurde, dass ihr leiblicher Vater ihre Mutter ermordet hatte, als sie selbst nur 18 Monate alt war – angeblich, weil er darüber verärgert war, wie sehr die Mutter ihr Kind vernachlässigte –, ergab das ein für die Öffentlichkeit stimmiges Bild einer Serienmörderin.

«Manchmal ist plötzlicher Kindstod vererblich. Bei Kathleen Folbigg gilt das auch für Mord», schrieb etwa die Zeitung «The Age» nach ihrer Verurteilung. Ein weiterer Zufall des Schicksals, der auf Folbiggs vermeintliche Schuld deutete.

Im Gefängnis verprügelt

So verhasst war Folbigg, dass sie im Gefängnis zu ihrer eigenen Sicherheit von anderen Insassen abgeschirmt wurde. Als dieses Arrangement 2021 im Zuge eines Transfers vernachlässigt wurde, wurde sie prompt brutal verprügelt.

Nun hat Generalbundesanwalt Michael Daley Kathleen Folbiggs sofortige Freilassung veranlasst, eine bedingungslose Begnadigung. «Ich hoffe, unser heutiges Handeln kann diese 20 Jahre alte Angelegenheit endgültig abschliessen», sagte er auf einer Pressekonferenz.

Doch vorerst bedeutet die Begnadigung nur, dass Folbigg frei ist. Ihre Verurteilung ist noch so lange gültig, bis sie von einem Gericht aufgehoben wird.