Die drei Ortsnamen stehen für Politiker, die durch grosse Verbrechen in die Weltgeschichte eingegangen sind: Braunau, Gori und Predappio. Keiner der drei Orte tut sich damit leicht, an die Diktatoren Hitler, Stalin und Mussolini zu erinnern. Eine Spurensuche.
Stalin, Mussolini und Hitler wurden im ausgehenden 19. Jahrhundert innerhalb von rund zehn Jahren geboren. In den Herkunftsorten der drei Diktatoren sind ihre Geburtshäuser erhalten. Die Erinnerungen an ihre Kindheit, ihre spätere Gewaltherrschaft und den Zweiten Weltkrieg sind in Braunau, Gori und Predappio auf unterschiedliche Weise präsent — doch es gibt dabei auch Ähnlichkeiten.
Braunau in Österreich
Der Granitblock hat Geschichte. Der tonnenschwere Stein, der wie beiläufig auf dem Bürgersteig vor dem Geburtshaus des Diktators Adolf Hitler (1889–1945) im österreichischen Braunau am Inn steht, stammt aus dem Steinbruch des ehemaligen Konzentrationslagers Mauthausen östlich von Linz. Dort kamen in der Nazi-Diktatur rund 100'000 Menschen ums Leben. Als Mahnung trägt er in Grossbuchstaben die Inschrift: «Für Frieden Freiheit und Demokratie. Nie wieder Faschismus. Millionen Tote mahnen.»
Die Aufstellung des Steins 1989 sollte ein Zeichen der 16'000-Einwohner-Stadt an der deutsch-österreichischen Grenze gegen braune Umtriebe sein. Immer wieder hatte das heute ziemlich heruntergekommene dreistöckige Haus Neonazis angelockt. Die Empfehlung einer Expertenkommission, die Inschrift um einen Hinweis auf die österreichische Mitverantwortung an den Nazi-Gräueltaten zu ergänzen, wurde jüngst aber abgelehnt.
«Die Inschrift soll bleiben und auch nicht ergänzt werden», lautete der einstimmige Beschluss eines Arbeitskreises der Stadt. «Das finde ich wirklich unerträglich», kritisiert der Wiener Historiker Oliver Rathkolb als Mitglied der Kommission. Es wäre wichtig, ein weiteres Zeichen der Mitschuld zu setzen. Denn Österreich hat sich damit jahrzehntelang schwergetan. Die Ansicht, das Land sei durch den Anschluss an Nazi-Deutschland 1938 Opfer statt Mittäter, ist erst in den 1990er-Jahren revidiert worden. Die Opfer-Doktrin sei auf offizieller Ebene zwar passé, aber viele Menschen relativierten weiter die Rolle Österreichs, urteilt Rathkolb.
Die Debatte um den Gedenkstein gehört zum wohl letzten Kapitel im Streit um die künftige Nutzung des Hitler-Geburtshauses. Ein Umbau soll dafür sorgen, dass das Gebäude keine Neonazi-Pilger anlockt. Dem Vorhaben war ein jahrelanger Rechtsstreit des Staates mit der Besitzerin vorausgegangen. 2017 wurde sie per Gesetz enteignet und erhielt 812'000 Euro für das Gebäude und das angrenzende Areal.
Die in der NS-Zeit veränderte Fassade soll nun wieder ihr historisches Aussehen erhalten. Nach Jahren des Leerstands werden, so heisst es beim Innenministerium, das Bezirkskommando der Polizei und die Polizeiinspektion Braunau einziehen. Ausserdem sollen die Beamten dort zum Thema Grund- und Menschenrechte geschult werden.
Die Idee des Umbaus mit Polizei-Nutzung stösst auch auf Kritik. Es herrsche die Devise «Verdrängung statt Auseinandersetzung», sagte der Vorsitzende des Mauthausen Komitees Österreich, Willi Mernyi. «Offenbar will man die Welt vergessen lassen, dass der schlimmste Massenmörder der Geschichte in Braunau geboren wurde.»
Florian Kotanko vom Verein für Zeitgeschichte Braunau sieht die Nutzung als Polizeiwache zwiespältig: Er verweist auf die irritierende Wirkung, wenn ein Verdächtiger sagt: «Ich werde im Hitler-Haus eingesperrt.» Die Zukunft sieht Kotanko sehr nüchtern. «Nicht jeder, der ein Foto schiesst, ist gleich Neonazi».
Kritisch beurteilt Monika Sommer den Umgang vieler Österreicher mit der jüngeren Vergangenheit. «Es gibt immer noch ein Unbehagen in der Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte», sagt die Direktorin des «Hauses der Geschichte Österreich» in Wien. Im Gegensatz zu Deutschland seien die grossen Initiativen und Projekte zur Aufklärung über die NS-Zeit rar gesät.
Gori in Georgien
Unter einem steinernen Pavillon — geschützt vor Wind und Wetter — steht in der georgischen Kleinstadt Gori das Geburtshaus von Josef Stalin. Als Josef Dschugaschwili kam er am 21. Dezember 1879 in dem bungalowähnlichen Gebäude am zentralen Platz des Ortes in armen Verhältnissen zur Welt. Nur vier Jahre lebte er hier, wie Touristen auf den gut besuchten Führungen erfahren. Sie hören auch, dass er sich mit 33 Jahren in Stalin umbenannte – Stalin wie Stahl.
Gleich hinter dem kleinen Haus tut sich ein monumentaler Palast im Stil der «Stalin-Gotik» mit grossen Arkaden auf. Das Bauwerk des sowjetischen Klassizismus an der Strasse mit dem Namen «Prospekt Stalina» entstand in den 1950ern. Es beherbergt ein Museum mit persönlichen Gegenständen, Möbeln und Devotionalien – und eine Kopie der Sterbemaske des Sowjetdiktators.
«Wir haben einen Fundus von 43'000 Objekten, können hier aber nur etwa ein Drittel überhaupt zeigen und wechseln daher oft die Exponate», sagt Olga Toptschischwili von der Museumsstiftung. Im vergangenen Jahr seien 173'000 Menschen gekommen — vor allem ausländische Touristen, Russen an erster Stelle, viele Iraner und Deutsche. In diesem Jahr ist wegen der Coronapandemie alles ruhig.
Bis 2010 stand in Sichtweite am zentralen Platz der Stadt eine noch zu Lebzeiten Stalins errichtete sechs Meter hohe Statue des Herrschers. Der damalige Präsident Michail Saakaschwili liess sie abreissen. Es wollte mit der sowjetischen Vergangenheit aufräumen. «Nun liegt das Monument etwa drei Kilometer vor den Toren der Stadt und wartet auf seine Verwendung», sagt Toptschischwili. «Wir würden Stalin jederzeit hier gern als Exponat aufstellen.» Doch seit Jahren gebe es keine politische Entscheidung.
Eine kleine Stalin-Skulptur steht auf dem Museumsgelände wie auch ein Waggon des Panzerzugs des Diktators. Darin reiste er im Zweiten Weltkrieg zu den Konferenzen der Alliierten in die iranische Hauptstadt Teheran und nach Jalta auf die Schwarzmeer-Halbinsel Krim.
In Reiseblogs beklagen Besucher, dass die Ausstellung unkritisch sei. «Wir sprechen alle Seiten an, die positiven wie die negativen. Natürlich geht es auch um die Repressionen in der Ausstellung», betont hingegen die Museumsfrau.
Der Umgang mit Stalin ist fast 70 Jahre nach seinem Tod 1953 nicht nur in seiner Heimat Georgien ein umstrittenes Thema – wo es auch Menschen gibt, die stolz sind darauf, dass es einer von ihnen zum mächtigsten Mann einer grossen Atommacht gebracht hatte. Schliesslich prägte Stalin das kommunistische Sowjet-Imperium nachhaltig. Seine Verehrer sehen ihn als Oberbefehlshaber der Roten Armee, die Hitler besiegte und Europa mit vom Faschismus befreite. Und sie halten ihm auch die Industrialisierung zugute.
Dass Stalin durch seine Verfolgung von Juden und mit der Jagd auf Andersdenkende Millionen Tote auf dem Gewissen hat, dass er Gefangene in dem Straflagersystem – Gulag – bis zum Tod ausbeuten liess, wollen seine Anhänger nicht hören. Besonders in Russland gilt Stalin schon seit Jahren als wieder salonfähig.
Bei Siegesfeiern zum Zweiten Weltkrieg und Demonstrationen der Kommunisten ist sein Konterfei auf Plakaten allgegenwärtig. Historiker und Meinungsforscher sind seit Langem besorgt, dass das Bild Stalins verwässert werde – auch in der Schule. Vor allem Jugendliche wüssten kaum noch etwas über die Repressionen zwischen 1930 und 1950, stellte das unabhängige Meinungsforschungszentrum Lewada in einer Studie in Moskau fest. Über die Verbrechen unter Stalin spreche die Politik kaum. Zudem würden Augenzeugen weniger.
Auch in Gori gab es Versuche, die Mythologisierung Stalins zu stoppen. Das Museum war zeitweise dicht. Geplant war zuletzt, daraus ein Museum der russischen Aggression zu machen. Die Pläne scheiterten – wohl auch, weil das Trendreiseland Georgien mit dem Stalin-Gedenken viel mehr Besucher aus dem Ausland anzieht.
Predappio in Italien
Das Rathaus von Predappio thront über dem Kirchenvorplatz. In der hügelreichen Gegend zwischen Rimini und Bologna wird Wein angebaut, im Spätsommer leuchten Sonnenblumenfelder. Bürgermeister Roberto Canali sitzt in einem Zimmer mit dunklen Holzmöbeln und spricht über Benito Mussolini. Der Diktator und Anführer der faschistischen Partei Italiens hat in diesem Städtchen, in diesem Gebäude, einen Teil seiner Kindheit verbracht. «Seine Mutter war Lehrerin. Sie hat hier in der Schule gewohnt und ihn hier unterrichtet», sagte der 56-jährige Politiker.
Auf Wappen und Möbeln sei früher das Rutenbündel mit Beil gewesen. Italiens Faschisten, die ab 1922 in Rom an der Macht waren, nutzten es als Symbol. Viele Zeichen wurden im Rathaus später entfernt. In Umrissen scheinen sie trotzdem an Stühlen durch. Canali kann damit leben. Relevanter scheint ihm, was fast jeder in dem Mittelmeerland weiss: dass seine gut 6'000 Einwohner zählende Stadt ein Treffpunkt für Neo-Faschisten ist.
Zehntausende zieht es auf einen Friedhof etwas ausserhalb zur Krypta des Diktators. Er war 1945 – entmachtet und auf der Flucht – von Partisanen umgebracht worden. Manche sind neugierige Touristen, andere lassen sich in martialischer Pose in Uniform fotografieren. Solche Umtriebe gefielen ihm nicht, sagt der Bürgermeister, aber: «Meist sind das Nostalgiker und Fantasten.»
«In Italien ist das Verhältnis zum Faschismus anders als in Deutschland. Der Name Mussolini, aber auch Symbole und typischen Gesten sind lange nicht so negativ besetzt», berichtet Tobias Mörschel, der das Italien-Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung leitet.
Zehn Minuten zu Fuss vom Rathaus liegt das schlichte Geburtshaus des Mannes, den viele einfach den «Duce» (Führer) nennen. In der «Casa Natale Mussolini», gebaut aus grossen Kalksteinen, war er 1883 zur Welt gekommen. Sein Vater hatte dort eine Schmiede.
Heute beherbergt das Haus ein Mini-Museum für Ausstellungen. In diesen Sommer lief eine Schau über Italiens Kolonialismus in Ostafrika – «inklusive der kritischen Seiten», wie ein älterer Herr dort betont. Der Sammler hatte mit anderen die Objekte und Fotos zusammengetragen. Weil kaum jemand kommt, guckt er selbst nach den Besuchern und erzählt, was aus seinem Fundus stammt.
An der Krypta sind mehr Besucher. Doch nachdem die Familie Mussolini, wohl aus organisatorische Gründen, das Gebäude verschlossen hält, «sind es 80 Prozent weniger Leute», sagt Bürgermeister Canali.
Über Jahre kursierten Pläne, im Ex-Hauptquartier der örtlichen Mussolini-Partei das erste Museum Italiens zum Faschismus zu schaffen. Historiker beklagen oft blinde Flecken der Aufarbeitung – etwa über Antisemitismus und die Afrika-Feldzüge. Nachdem der rechtsgerichtete Canali 2019 eine lange Folge von linken Vorgängern ablöste, sieht es nicht mehr nach einer Umsetzung des Vorhabens aus.
Canali möchte das Image der Stadt anders prägen: Für 2020 gibt es einen Architekturkalender. Mussolini liess den Ort ab den Zwanzigern mit Monumentalbauten neu gestalten. «Für unseren Wein, den Sangiovese di Predappio, möchten wir bekannter werden», erzählt Canali.
Dazu passt gar nicht, dass mehrere Läden haufenweise Diktatoren-Devotionalien anbieten: Büsten, Orden, Becher mit Hakenkreuz. Auch Hitlers «Mein Kampf» steht im Regal. Ausserdem Mussolini-Bilder mit erhobenem rechtem Arm, Römischer Gruss genannt. Pasta in Form des Mussolini-Kopfes mit Helm wird ebenfalls verkauft. Die Stadt lässt die Geschäfte so laufen.
«Italiens Umgang mit dem Erbe des Faschismus besitzt Elemente der Folklore, der Verharmlosung und der Anfälligkeit für ultrarechte Tendenzen. Es ist etwas Kindliches daran, aber man darf die gefährlichen Seiten nicht übersehen», mahnt der Historiker Carlo Gentile, der an der Universität Köln arbeitet. «Sowohl Faschismus als auch der Neo-Faschismus nach dem Zweiten Weltkrieg sind im Kern gewalttätig.» Zugleich gelte: «Ausmass und Opferzahlen der Gewalt unter Mussolini haben, bei aller Unsicherheit über die konkreten Zahlen, nicht die Dimension der Verbrechen des Nationalsozialismus.»