Australiens Hassliebe zum KänguruWunder der Evolution oder Pest?
Von Carola Frentzen, dpa
12.6.2022 - 00:00
Farmer nennen sie eine Pest, Gourmets eine Leckerei und Tierschützer ein Wunder der Evolution: Kängurus. Die Australier verbindet eine Art Hassliebe mit ihrem Nationaltier.
Von Carola Frentzen, dpa
12.06.2022, 00:00
dpa
Munter hüpft Dot durchs Gehege. Den Namen trägt sie wegen eines kleinen dunklen Punkts im Fell, gleich unter dem rechten Auge. Mit ihrer Gruppe aus fünf weiteren weiblichen Kängurus hat die Siebenjährige im Wild Life Sydney Zoo ein gutes Leben. Sie ist zutraulich, verfressen und extrem niedlich, während sie Besucher mit grossen Augen anschaut. Mittlerweile hat sie es zur Matriarchin der Gruppe gebracht. Aber um Haaresbreite wäre Dot schon als Jungtier gestorben: Ihre Mutter wurde auf Kangaroo Island vor der australischen Südküste tödlich von einem Auto erfasst.
«Dot befand sich damals im Beutel und war dadurch weitgehend von dem Aufprall geschützt», erzählt Jessica Dick, die im Tierpark in Sydneys berühmtem Viertel Darling Harbour als Pflegerin arbeitet und eine besondere Schwäche für Kängurus hat. Ein Passant bemerkte das Baby im Beutel und rief die Behörden, die es retteten. Damals war Dot noch so klein, dass sie im Zoo per Flasche aufgezogen werden musste – aber Känguru-Waisen später auszuwildern, ist so gut wie unmöglich. «Ihre Geschichte teilt sie mit vielen Kängurus, die in Wildparks in ganz Australien leben», erzählt Dick, während sie die Hüpftierbande mit Süsskartoffel-Snacks versorgt.
Seltsame Hassliebe
Tatsächlich ist Dots Schicksal eher die Norm. «Ich kenne aus meinem Bekanntenkreis niemanden, der noch nicht im Auto mit einem Känguru zusammengeprallt ist», sagt Louise Anderson aus der Nähe von Melbourne. Sie selbst sei da keine Ausnahme. Schätzungen besagen, dass es für jeden Australier mindestens zwei Kängurus gibt – das wären etwa 50 Millionen Exemplare in dem riesigen Land. Aber das Verhältnis der «Aussies» zu ihrem Nationaltier ist zwiegespalten.
«Kängurus sind unsere nationale Ikone und werden auf der ganzen Welt als «typisch australisch» gefeiert», sagt Mick McIntyre, der vor fünf Jahren einen preisgekrönten Dokumentarfilm mit dem Titel «Kangaroo – A Love-Hate Story» veröffentlicht hat. Die seltsame Hassliebe der Australier zu ihrer Ikone sei hingegen international kaum bekannt.
In dem Film ist zu sehen, wie Nacht für Nacht im Schutze der Dunkelheit Tausende Kängurus erschossen werden – besonders in entlegenen Outback-Regionen. Eine illegale Jagd, denn in Australien ist es verboten, ein Känguru zu töten, zu kaufen, zu verkaufen oder zu besitzen. Als Reaktion auf die hohe Känguru-Population vergibt die australische Regierung aber Lizenzen, die es den Inhabern erlauben, Kängurus zu keulen. Allerdings werden die Tiere auch ohne Lizenz getötet, und zwar im grossen Stil.
Kängurus würden kommerziell bis zum Äussersten ausgebeutet, «ohne Rücksicht auf ihren Platz in der Ökologie dieses Kontinents und auf ihr Wohlergehen», so McIntyre. «Den Tieren werden durch den Druck der Känguru-Industrie, die auch Europa mit Fleisch und Häuten beliefert, jede Nacht barbarische Grausamkeiten zugefügt.» Viele «Joeys», wie Känguru-Babys genannt werden, hätten kaum eine Überlebenschance, wenn die Muttertiere erschossen würden. Millionen Beuteltiere sind nach Schätzungen Jahr für Jahr von der brutalen Jagd betroffen.
«Australier benutzen das Känguru-Emblem gerne als Maskottchen für ihre Sport-Teams und als Logo für Unternehmen, aber gleichzeitig wird kein anderes an Land lebendes Wildtier in so einem Umfang abgeschlachtet wie das Känguru», betont McIntyre, der zusammen mit seiner Partnerin Kate jahrelang für die Doku recherchiert hat. Tatsächlich prangt das Beuteltier etwa auf den Maschinen der nationalen Airline Qantas.
Bei einem Rundgang durch das Traditionsviertel The Rocks nahe der Sydney Harbour Bridge zeigt sich, wie der Kommerz mit den Tieren aussieht: Eine Verkäuferin preist stolz Känguru-Felle an, daneben werden Handtaschen und Geldbörsen aus Känguru-Leder feilgeboten. In vielen Restaurants von Adelaide bis Darwin stehen Känguru-Steaks, -Burger oder -Kebabs auf der Speisekarte. Reisende, die die Tiere kurz zuvor im Outback noch in freier Wildbahn bewundert haben, erwerben kurz darauf achtlos Souvenirs aus ihrer Haut.
«Viele essen das Fleisch, auch weil es vergleichsweise günstig ist», sagt Pflegerin Jessica Dick. Zudem sei es fettarm und reich an Protein und Eisen. «Ich habe es mal probiert, aber der Geschmack ist sehr eigen», so die Tierpflegerin. McIntyre sagt, es sei eine «nationale Schande», Kängurufleisch und -häute für Luxusgüter, Tierfutter und Gourmetlokale zu verwenden. Dies sei «Australiens schmutziges dunkles Geheimnis».
Bei den Doku-Dreharbeiten stellte das Team fest, dass der mangelnde Respekt für Kängurus wohl noch von der weissen Kolonialgeschichte des Landes herrührt. Seither glaubten viele Farmer, dass die Pflanzenfresser eine Bedrohung für die Landwirtschaft darstellten, sagt McIntyre. Obwohl sich die Kängurus seit Millionen Jahren den Gegebenheiten Australiens angepasst hätten, hätten die Neuankömmlinge aus Europa sie als Problem empfunden. «Diese Überzeugungen existieren auch nach 250 Jahren weisser Besiedlung noch heute.»
Dabei sind die Tiere ein Wunder der Evolution. Sie bevölkern den Kontinent schon seit 25 Millionen Jahren. Viele Ureinwohner verehren das Känguru als ihr Totem. «Dies ist ihr Land», sagt Max Dulumunmun Harrison vom Volk der Yuin im Film. «Sie sind die ersten Australier und Teil unserer Zeremonien.»
Es gibt vier Haupt-Arten: Das Rote Riesenkänguru, das Östliche Graue Riesenkänguru, das Westliche Graue Riesenkänguru und das Antilopenkänguru. Dot ist vergleichsweise klein: Sie ist ein Kangaroo-Island-Känguru, eine Unterart des Westlichen Grauen Riesenkängurus. Einige ihrer grösseren Artgenossen sind derweil weniger friedfertig als sie.
Männliche Rote Riesenkängurus werden rund zwei Meter gross und sind die grössten Beuteltiere der Welt. Sie sind wahre Muskelpakete und wiegen bis zu 90 Kilo. Mit Sprüngen von bis zu neun Metern erreichen sie eine Geschwindigkeit von bis zu 65 Stundenkilometern. Die Sehnen der Hinterbeine arbeiten wie Sprungfedern, während der mächtige Schwanz hilft, das Gleichgewicht zu halten.
In den vergangenen Monaten ist es in Wohngebieten mehrmals zu Angriffen auf Menschen gekommen, bei denen die Opfer auch verletzt wurden und im Krankenhaus behandelt werden mussten. «Wenn sie sich nicht bedroht fühlen, sind sie ziemlich relaxed, aber das hängt von der Spezies ab», erzählt Jessica Dick.
Erst kürzlich rastete in Heathcote im Bundesstaat Victoria ein Riesenkänguru aus, als ein Anwohner seine beiden kleinen Hunde vor ihm schützen wollte. Der Mann lieferte sich einen sechsminütigen Zweikampf mit dem tierischen Radaubruder, wie ein Video zeigte. Böse war er dem Känguru hinterher nicht, auch wenn er einige Blutergüsse davontrug: «Australien ist das Land der Kängurus, wir haben unsere Strassen auf ihrem Land gebaut», sagte er im Fernsehen.
Die Weibchen sind meist mit der Aufzucht der Jungen beschäftigt, die sie etwa ein Jahr lang säugen. Sechs Wochen alte Kängurus im Beutel sind derweil gerade einmal daumengross und nackt – es scheint unfassbar, dass daraus innerhalb weniger Jahre solch mächtige Kreaturen werden. Die Muttertiere können schon wieder Nachwuchs zeugen, während sie noch ein älteres Baby säugen. Sie produzieren dabei zwei verschiedene Milchsorten für ihre Jungen – das kleinere bekommt aus einer Zitze Milch mit vielen Antikörpern, das grössere «Joey» besonders fettreiche Milch für ein schnelles Wachstum.
Filmemacher Mick McIntyre hat inzwischen eine Tierschutzorganisation namens «Kangaroos Alive» gegründet. «Wir setzen uns jetzt dafür ein, dass die Australier lernen, mit den Kängurus zusammenzuleben und ihren Platz in diesem Land schätzen zu lernen – nicht nur als Sportmaskottchen oder für Firmenlogos.» So gebe es grosses Potenzial für Wildtiertourismus oder «Känguru-Watching», das bisher kaum genutzt werde, sagt er und fügt hinzu: «Kängurus sind zurecht unsere nationale Ikone, ein echter Schatz in der Tierwelt.»