Nebenschauplätze nehmen zuDarum droht mit jedem Schlag ein grösserer Nahost-Krieg
AP/toko
11.1.2024 - 10:26
Bislang hat sich der Gaza-Krieg nicht zu einem Flächenbrand ausgeweitet. Aber die Schläge und Gegenschläge von Israel, den USA und Irans Verbündeten auf den Nebenschauplätzen nehmen zu.
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11.01.2024, 10:26
11.01.2024, 10:38
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Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Während Gaza bereits jetzt in Schutt und Asche liegt, droht der Krieg sich auf die gesamte Region auszuweiten. Mit jedem Schlag und Gegenschlag aller beteiligten Akteure steigt die Gefahr einer Eskalation.
Insbesondere die Hisbollah steckt in einem Dilemma. Während ein grösserer Konflikt riskant wäre, könnte sie als schwacher oder unzuverlässiger Verbündeter erscheinen, wenn sie Anschläge wie zuletzt auf einen Kommandeur im Libanon unbeantwortet lässt.
Auch die USA sind in der Region hochaktiv, haben bereits im Oktober zwei Flugzeugträger-Kampfgruppen in der Region stationiert – als Abschreckung gegen den Iran.
Im Roten Meer ist es zu einem direkten Feuergefecht zwischen vom Iran unterstützten jemenitischen Rebellen und der US-Marine gekommen.
Allein in der vergangenen Woche hat Israel einen hochrangigen Hamas-Führer in Beirut durch einen Drohnenangriff getötet und die Hisbollah einen wichtigen israelischen Stützpunkt mit Raketen beschossen. Die USA haben einen Milizen-Kommandeur in Bagdad getötet, und im Roten Meer ist es zu einem direkten Feuergefecht zwischen vom Iran unterstützten jemenitischen Rebellen und der US-Marine gekommen. Und diese Serie setzte sich auch am Montag fort – mit einem neuen tödlichen Luftschlag der Israelis, diesmal gegen einen Hisbollah-Kommandeur im Libanon.
Jeder Schlag und Gegenschlag erhöht die Gefahr, dass sich der bereits katastrophale Krieg im Gazastreifen auf die Region ausbreitet. Und es gibt die Sorge, dass im jahrzehntelangen Spannungsfeld mit den USA und Israel auf der einen und dem Iran sowie verbündeten militanten Gruppen auf der anderen Seite jede Partei einen breiteren Krieg auslösen könnte – sei es auch nur, um zu vermeiden, schwach zu erscheinen.
Es ist wie eine Art von miteinander verwobenen Schachspielen, die zusehends komplizierter werden, und mit jedem Zug wächst die Gefahr von Fehlkalkulationen.
Gaza ist Ground Zero
Hamas sagt, dass seine Angriffe im Süden Israels am 7. Oktober, die den Gaza-Krieg auslösten, eine rein palästinensische Antwort auf Jahrzehnte israelischer Dominanz und Unterdrückung gewesen seien. Es gibt tatsächlich keine Beweise, dass der Iran, die Schiitenmiliz Hisbollah oder andere verbündete Gruppen eine direkte Rolle spielten oder überhaupt vorab von den Hamas-Aktionen wussten.
Aber als Israel mit einer der bislang verheerendsten Militärkampagnen im 21. Jahrhundert in der palästinensischen Enklave Gaza antwortete, war die sogenannte Achse des Widerstands – Iran und die von ihm unterstützten Gruppen in der Region – dem Druck ausgesetzt, zu reagieren. Das palästinensische Anliegen findet in der Region tiefe Resonanz. Die Hamas im Angesicht der israelischen Wut allein zu lassen, wäre riskant für den Iran gewesen. Es hätte möglicherweise eine militärische Allianz zerfasert, die Teheran aufgebaut hat, seit die Islamische Revolution 1979 das Land auf einen Kollisionskurs mit dem Westen brachte.
«Sie wollen keinen Krieg, aber sie wollen auch nicht die Israelis weiter ohne Vergeltung zuschlagen lassen», sagt Kassim Kassir, ein libanesischer Hisbollah-Experte. «Etwas Grosses muss passieren, ohne in den Krieg zu ziehen, sodass die Israelis und Amerikaner überzeugt sind, dass es keinen Weg vorwärts gibt.»
Das Dilemma der Hisbollah
Die Hisbollah hat von allen regionalen iranischen Stellvertretergruppen das grösste Dilemma. Wenn sie israelische Angriffe wie den in Beirut, der den stellvertretenden Hamas-Führer tötete, toleriert, könnte sie als schwacher oder unzuverlässiger Verbündeter erscheinen. Aber sollte sie einen vollen Krieg auslösen, hat Israel als Reaktion massive Zerstörung im Libanon angedroht, der bereits wirtschaftlich am Boden liegt. Sogar Hisbollahs Gefolgschaft könnten das als einen zu hohen Preis für die Unterstützung eines palästinensischen Verbündeten betrachten.
Die Gruppe hat seit Beginn des Gaza-Kriegs fast jeden Tag Angriffe an der Grenze ausgeführt, offenbar mit dem Ziel, einige der israelischen Soldaten zu binden. Israel hat das Feuer erwidert, aber beide Seiten scheinen sorgfältig darauf bedacht zu sein, die Intensität ihrer Aktionen zu begrenzen. So wurde mit dem Abschuss von mindestens 40 Raketen auf eine israelische Militärbasis am Samstag eine Botschaft ausgesendet, ohne einen Krieg zu beginnen.
Wären 80 Raketen ein Schritt zu weit gewesen? Was, wenn es zu Toten gekommen wäre? Es gibt keine klare Antwort darauf. Und am Ende, so sagen Experten, mag es auch kein einzelner Schlag sein, der eine volle Offensive auslöst. Israel will, dass Zehntausende seiner Bürger in Orte an der libanesischen Grenze zurückkehren können, die vor fast drei Monaten wegen Beschusses durch Hisbollah evakuiert worden waren.
Und nach dem 7. Oktober mag es nicht länger in der Lage sein, die Präsenz bewaffneter Hisbollah-Kräfte direkt auf der anderen Seite der Grenze zu dulden. Israelische Führungspersonen haben wiederholt mit Militärgewalt gedroht, wenn die Gruppe nicht der UN-Waffenstillstandsvereinbarung von 2006 folgt, die ihren Abzug von der Grenze anordnete.
Sie haben im Oktober zwei Flugzeugträger-Kampfgruppen in der Region stationiert, eine davon wird nun gegen andere Kriegsschiffe ausgewechselt. Die Entsendungen waren eine Warnung an den Iran und dessen Verbündete, den Konflikt nicht auszuweiten. Dennoch haben vom Iran unterstützte Gruppen in Syrien und im Irak Dutzende Raketenangriffe gegen US-Militärstützpunkte ausgeführt, und die Huthi-Rebellen im Jemen haben ausländische Schiffe im Roten Meer attackiert. Teheran sagt, dass seine Verbündeten nicht auf iranische Anweisung hin handelten.
Das Letzte, was die meisten Amerikaner nach zwei Jahrzehnten von Einsätzen im Irak und in Afghanistan wollen, ist ein anderer Nahost-Krieg. Aber in den vergangenen Wochen haben US-Kräfte einen ranghohen proiranischen Milizenkommandeur im Irak und zehn Huthi-Rebellen getötet, die einen Frachter im Roten Meer entern wollten. Das könnte wiederum Reaktionen auslösen.
Die USA bemühen sich, eine multinationale Koalition zu schmieden, um die Schifffahrt im Roten Meer zu schützen. Aber sie scheinen zu zögern, die Huthis auf dem Land anzugreifen.
Wie geht es weiter?
Die regionalen Spannungen werden wahrscheinlich gross bleiben, solange Israel die Gaza-Offensive fortsetzt, die nach seinen Angaben darauf abzielt, Hamas zu zerstören. Gibt es diverse diplomatische Bemühungen – so von amerikanischer und europäischer Seite –, den Konflikt in Grenzen zu halten, werden die bedeutendsten Botschaften wahrscheinlich weiter in der Form von Raketen ausgesendet werden.
«Die Amerikaner wollen keinen offenen Krieg mit dem Iran, und die Iraner wollen keinen offenen Krieg mit den Vereinigten Staaten», sagt Analyst Ali Hamadeh, der für die libanesische Zeitung «Al-Nahar» schreibt. «Deshalb gibt es Verhandlungen durch Beschuss.»