Die Medizintechnik-Branche sieht ein «hausgemachtes Versorgungsproblem» auf die Schweiz zukommen: Mit dem Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen könnten künftig bis zu 36'000 Produkte auf dem Gesundheitsmarkt fehlen.
Keystone-SDA, bs, sda
19.10.2021, 09:01
19.10.2021, 10:58
SDA/uri
Die Medizintechnik-Branche hat an ihrem Kongress am Dienstag in Bern konkrete Forderungen an die Politik gestellt. Denn die Branche sieht wegen des Streits zwischen der Schweiz und der EU über ein Rahmenabkommen die Patientensicherheit gefährdet.
«Unsere Wirtschaftsbranche steht seit Monaten unter immensem Druck», sagte Beat Vonlanthen, Präsident des Schweizer Medizintechnik-Verbandes Swiss Medtech, laut Redetext an der Eröffnung des Kongresses.
Wegen des Abbruchs der Verhandlungen zum institutionellen Rahmenabkommen mit der EU hat die Schweizer Medtech-Branche ihren privilegierten Zugang zum EU-Markt verloren. Daher müssen neu alle Schweizer Medtech-Firmen einen Bevollmächtigten in der EU benennen.
Beim Export habe sich die Branche arrangiert, heisst es in der Mitteilung. Alarmierend ist laut Swiss Medtech aber die Situation beim Import.
Befürchtungen beim Import
Denn um gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, revidierte der Bundesrat die Medizinprodukteverordnung und verlangt nun von ausländischen Unternehmen, dass sie ihre Produkte mit einem Schweizer Bevollmächtigten und dem Importeur anschreiben.
Aufgrund dieser Zusatzetikettierung fürchtet die Branche nun um die Patientensicherheit in der Schweiz. Für ausländische Hersteller seien damit zu hohe Hürden aufgestellt worden. «Es bahnt sich ein hausgemachtes Versorgungsproblem an», sagte Vonlanthen.
Mittel- bis langfristig rechnet Swiss Medtech damit, dass jedes achte Produkt im Schweizer Gesundheitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen wird – das sind rund 36’000 Produkte. Laut Daniel Delfosse, Leiter für Regulierungsfragen von Swiss Medtech, wird es ab der zweiten Hälfte nächsten Jahres «breit spürbare Versorgungslücken geben».
Windeln und medizinische Gase
Was dieser Zusatzaufwand bedeutet, rechnet Swiss Medtech am Beispiel von Inkontinenzwindeln vor. Die rund 500'000 Personen mit Blasenschwäche in der Schweiz brauchen pro Tag im Durchschnitt 2,5 Inkontinenzprodukte. Dies ergebe einen Bedarf von 8,75 Millionen Windeln pro Woche.
Dies wiederum bedeute 116'000 Zusatzetiketten pro Tag. Bei neun Sekunden Arbeitsaufwand für jedes Produkt – davon gehen die Grosshändler im besten Fall aus – müssen für die Etikettierung allein 36 zusätzliche Mitarbeiter eingestellt werden.
Ein anderes Beispiel sind medizinische Gase wie etwa Sauerstoff, oder Lachgas, die für die Atemunterstützung oder als Narkosemittel verwendet werden. Sie können nur mit entsprechendem Zubehör wie Armaturen, Ventile und Schläuche eingesetzt werden.
Die Schweizer Firma, die die Gase liefert, vertreibt daher auch Zubehöre, die von ausländischen Firmen hergestellt wurden. Wegen der neuen Regeln stellen sich nun viele von ihnen die Frage, ob sich Lieferungen in die Schweiz für sie noch lohnen. «Fällt nur schon einer der Lieferanten weg, kann die flächendeckende Versorgung nicht mehr sichergestellt werden», heisst es weiter.
Forderungen an Politik
Swiss Medtech stellt daher zwei Forderungen an die Politik: Die Schweiz müsse ihre Medizinprodukteverordnung noch vor Jahresende revidieren. Konkret soll auf die Zusatzetikettierung von bereits zertifizierten Produkten verzichtet werden. Bei einer Neuzertifizierung sollten die Behörden auf eine physische Etikettierung verzichten.
Zudem solle der Bundesrat sich bei der EU um eine Lösung bemühen, damit Schweizer Unternehmen für die Umsetzung der neuen Anforderungen für bereits zertifizierte Produkte eine Übergangsfrist bis Ende 2024 erhalten – so wie alle anderen Drittstaaten.
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