Kriegsfolgen für die Wirtschaft«Die Unsicherheit ist zum Greifen»
Von Oliver Kohlmaier
25.2.2022
Ein internationaler Konflikt ist Gift für die zarte Erholung der Weltwirtschaft. Auch in der Schweiz bereitet die dramatische Eskalation in der Ukraine den Geschäftsleuten grosse Sorgen.
Von Oliver Kohlmaier
25.02.2022, 06:45
25.02.2022, 09:45
Oliver Kohlmaier
Die Nervosität in der Wirtschaft ist schon seit Tagen spürbar. Nun hat die russische Invasion die letzten Hoffnungen an den Finanzmärkten pulverisiert. Börsen und Wirtschaft stehen vor turbulenten Zeiten, auch in der Schweiz.
Weltweit stürzen Aktienkurse ab, viele Investoren flüchteten in Anlagen wie Gold, die in Krisenzeiten als sicher gelten. Auf Verbraucher könnten nach Berechnungen von Ökonomen drastische Preissteigerungen zukommen, denn Russland ist ein grosser Gaslieferant für Europa, aber zum Beispiel auch einer der weltgrössten Anbieter von Aluminium, das in vielen Produkten steckt.
Am Donnerstag haben sich zahlreiche Rohstoffe stark verteuert, die aus Russland exportiert werden. Das Land zählt zu den wichtigsten Produzenten von Weizen weltweit. Aber auch die Ukraine zählt zu den grossen Weizenproduzenten. Beide Länder haben gemeinsam einen Anteil am weltweiten Handel mit dem Agrarrohstoff von etwa einem Viertel.
«Die Unsicherheit ist zum Greifen»
Der russische Angriff auf die Ukraine könnte die Weltwirtschaft empfindlich schwächen. Diese befindet sich infolge der Corona-Pandemie und trotz Inflationssorgen eigentlich im Aufwärtstrend.
Unsicherheit durch einen internationalen Konflikt ist daher Gift für die Erholung der Weltwirtschaft. «Offensichtlich führt die Situation zu einer hohen Nervosität im Markt», sagt Rudolf Minsch, Chefvolkswirt von Economiesuisse, auf Anfrage von blue News: «Die Unsicherheit ist zum Greifen.»
Laut dem Ökonomen wird der Angriff die Erholung der Weltwirtschaft «sicherlich» vorübergehend belasten. Die weitere Entwicklung hinge jedoch entscheidend davon ab, wie weit der Konflikt eskaliert und welche Reaktion aus dem Westen kommt.
«Im schlimmsten Fall kann dies dazu führen, dass die Wachstumsimpulse abgewürgt werden.» Sollte sich die Lage beruhigen, «wären die konjunkturellen Auswirkungen aber nicht dramatisch», betont Minsch.
Die hohen Inflationsraten bereiten zudem schon länger Sorgen, auch wenn die Schweiz bislang nicht im selben Masse wie die europäischen Nachbarn von betroffen war.
Doch die Eskalation in der Ukraine werden auch die Konsument*innen in der Schweiz zu spüren bekommen. «Tanken und Heizen, Vorleistungsprodukte, Rohmaterialien werden teurer, dies verteuert die Produktion und führt auch zu höheren Konsumentenausgaben», sagt Minsch.
Sorge um Lieferketten
Gestörte Lieferketten und steigende Preise auch durch Knappheit bei den Rohstoffen belasten zahlreiche Branchen in der Schweiz.
Bereits infolge der Erfahrungen in der Pandemie hätten Schweizer Unternehmen allerdings reagiert und die Lagerbestände erhöht, so Minsch. Die Firmen versuchten zudem, alternative Lieferanten aufzubauen.
Minsch zufolge ist die unmittelbare Bedeutung der Ukraine für die Schweizer Wirtschaft überschaubar, er betont jedoch: «Die Unternehmen machen sich aber grosse Sorgen, ob die weltweiten Lieferketten weiterhin funktionieren. Dazu gehört auch der reibungslose Transport.»
Schutz der Mitarbeitenden an erster Stelle
Der Krieg in der Ukraine trifft zahlreiche Schweizer Firmen wirtschaftlich — direkt oder indirekt. Die sorgen sich zunächst vor allem um die Sicherheit ihrer Mitarbeiter*innen.
Der Pharmakonzern Roche etwa hat eine Niederlassung in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Das Unternehmen beobachte die Entwicklung derzeit intensiv.
Zur Aufrechterhaltung des Betriebs auch im Kriegsfall gebe es «robuste Pläne», sagte Roche auf Anfrage der Nachrichtenagentur AWP. Ziel sei es, dass Patienten in der Ukraine und in Russland Zugang zu den Medikamenten und Diagnostiker haben. Die Pläne würden entsprechend der Situation stetig aktualisiert, hiess es bei Roche.
Auswirkungen hat der Krieg unter Umständen auch auf Firmen, die nicht direkt mit eigenen Niederlassungen in der Ukraine oder Russland vertreten sind. Betroffen seien vor allem rohstoffabhängige Branchen wie die Industrie, sagte Martin Neff, Ökonom von Raiffeisen im Gespräch mit AWP.
Da der wichtigste Treiber der Schweizer Wirtschaft aber die Pharmaindustrie ist, erwartet der Ökonom durch ausbleibende oder verzögerte Lieferungen keine grossen Einflüsse auf die Gesamtwirtschaft.
In der Textilbranche könnte es hingegen zu einer Verschärfung kommen. Da die Schweiz vor allem Güter aus der Textil- und Bekleidungsindustrie sowie landwirtschaftliche Güter aus der Ukraine importiert, könne es in diesen Sektoren zu Lieferschwierigkeiten kommen, ordnet ZKB-Ökonom David Marmet die Situation ein.
Sorgen auch im Tourismus
Der Konflikt dürfte auch beim Schweizer Tourismus seine Spuren hinterlassen. Laut dem Chef von Schweiz Tourismus, Martin Nydegger, nämlich gleich auf dreifache Weise: Einerseits dürfte durch den Krieg natürlich die Reisetätigkeit von russischen Gästen in die Schweiz abnehmen. «Die ist im Moment natürlich hochgradig gefährdet», so Nydegger.
Und dabei sind die Reisenden aus Russland für die Branche in der Schweiz sehr wichtig. In normalen Zeiten – also vor der Krise – habe man jeweils rund 360'000 Logiernächte jährlich durch russische Gäste verzeichnet, sagt Nydegger. Zum Vergleich: Insgesamt betrug die Zahl der Übernachtungen von ausländischen Gästen in der Schweiz im Jahr vor der Krise 21,6 Millionen. Damit gingen rund 2 Prozent der Übernachtungen auf das Konto von Russen.
Wie gross die Zahl der Übernachtungen von Ukrainern in der Schweiz ist, kann der Verband Schweiz Tourismus laut einer Sprecherin hingegen nicht beziffern. Jedoch handle es sich um eine kleine Zahl.