«Dynamic Pricing» Grosser Sturm im Bierglas

Von Hanspeter «Düsi» Künzler, London

1.10.2023

Ist das Pub voll, wird das Bier teurer. In etwa so lassen sich die dynamischen Preise einer Pub-Kette in Grossbritannien zusammenfassen.
Ist das Pub voll, wird das Bier teurer. In etwa so lassen sich die dynamischen Preise einer Pub-Kette in Grossbritannien zusammenfassen.
Fernando Gutierrez-Juarez/dpa

Je mehr Leute im Pub stehen, desto teurer wird das Bier. So hat es die grösste britische Pub-Kette beschlossen. Damit will sie dem grassierenden Pub-Sterben die Stirn bieten. Die Kundschaft gibt sich empört. Jedenfalls so lang sie nüchtern ist.

Von Hanspeter «Düsi» Künzler, London

1.10.2023

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Eine grosse Pub-Kette in Grossbritannien hat entschieden, dass das Bier teurer wird, sobald mehr Menschen in der Bar sind.
  • Der Grund: Mehr Menschen brauchen auch mehr Bar- und Sicherheitspersonal.
  • Angesichts der steigenden Lebenskosten auf der britischen Insel wird dies für viele Pub-Gänger zum Problem.

«Die Idee ist mir so fremd, dass ich darüber gar nicht reden will», knurrt Michael, der Wirt meiner Stammkneipe, und verkriecht sich eiligst hinter der Theke. «Eine Schande!», ruft Derry, 75, aus. Fast jeden Abend sitzt er mit seinem jüngeren Bruder an der Bar und sippt gemütlich am Lager. Betrunken ist er nie. «Ein dreister Machtmissbrauch!», poltert er weiter. «Wo bleibt der Preisüberwacher? Sowas sollte verboten werden.»

Autor Hanspeter Düsi

Der Zürcher Journalist Hanspeter «Düsi» Künzler lebt seit bald 40 Jahren in London. Er ist Musik-, Kunst- und Fussball-Spezialist und schreibt für verschiedene Schweizer Publikationen wie blue News und die NZZ. Regelmässig ist er zudem Gast in der SRF3-Sendung «Sounds».

McGlynn's ist ein Pub der alten Schule, beseelt von zumeist älteren, oft irischen Stammgästen und deren Nachwuchs. Er liegt in Kilburn, einem Stadtteil von London, der nicht ganz im Zentrum, doch aber für Londoner Distanzverhältnisse ziemlich zentral liegt. Die «Pint of Guinness» kostet hier £ 4.60 (sFr. 5.11), Lager ist ein paar Rappen teurer. Im Vergleich zu den trendigen Quartieren Shoreditch und Hoxton, zum Börsenviertel oder gar den Party-Meilen rund um Soho und Covent Garden, ist das praktisch geschenkt. Dort blättert man für die durchschnittliche Pint (etwas mehr als ein halber Liter) gern drei Pfund mehr auf den Tisch.

«Dynamische Preispolitik» für das Pub

Und wenn der Laden voll ist, kommen dazu neuerdings nochmal um die zwanzig Pence. So jedenfalls hat es die Firma Stonegate beschlossen. «Dynamische Preispolitik» nennt man das offenbar. Der Firma gehören im ganzen Land rund 4000 Pubs, etwa die populären «Slug & Lettuce»- und «Craft Union»-Brands. Das Argument: mehr Gäste braucht mehr Personal. Darunter Türsteher.

Auch das ein Zeichen der Zeit: in früheren Dekaden nahmen alkoholgetränkte Schlägereien halt so ihren Verlauf. Sie gehörten quasi zum Wochenendvergnügen. Seit eine neue Welle von Pub-Betreibern auf die Idee verfiel, den späten Nachmittag zur «Happy Hour» zu ernennen, um vorab junge Trinker mit Schleuderpreisen anzulocken, gehen die Party-Exzesse und -Schlägereien früher los und sind schwieriger zu beenden. So braucht es Profis an der Tür. Das schlägt aufs Budget.

«The Black Lion» an der Kilburn High Road ist ein innendekoratives Wunderwerk im viktorianischen Stil. Die Preise nähern sich denen im West End, aber einer jüngeren, durchaus trendigen Kundschaft scheint das nichts auszumachen. Der Ort ist nicht zuletzt bei Pub-Gängern populär, die es schätzen, nicht von krachenden Techno-Beats zugedröhnt zu werden – ein vor allem im West End gern angewandter Trick, das Plaudern zu verhindern, um den Getränke-Input anzukurbeln.

Auch hier kann sich niemand an der Idee einer «dynamischen Preisliste» erfreuen. Allerdings nimmt man es eher gelassen, denn man fühlt sich nicht betroffen. «Zum Glück besuchen wir den Pub eh nur dann, wenn sonst keine Leute da sind», grinst Duncan, der sein Alter nicht verraten will. «Atmosphäre kann man eh nicht kaufen», gibt Rob, 28, zu bedenken. Und Sheila, 60: «Die zahlen ja sowieso. Sie sind im Ausgang, da kommt's nicht drauf an.»

Traditionelle Pubs leiden unter dem Zeitgeist

In den traditionellen Pubs geht man höchstens am Sonntag «in den Ausgang», wenn vielleicht noch eine kleine Band spielt. An den anderen Tagen dient der traditionelle Pub vielen Menschen als zweites Zuhause. So wie die «Knellen» alten Stiles in der Schweiz immer seltener werden, haben auch die traditionellen Pubs mit Schwergewicht Bier und Nüsschen unter dem Zeitgeist schwer zu leiden.

Zuerst traten die Gastro-Pubs auf den Plan: nebst dem üblichen Bier lockten sie mit feiner Weinliste, dazu oft hervorragender Cuisine, ein vorab jüngeres Publikum an. Am Anfang von den Traditionalisten als «Gimmicks» verlacht, verkörpern sie heute das elegante Establishment der Pub-Kultur. In die Zange genommen werden die klassischen Pubs seit den 90er-Jahren auch von Pubs in der Art von «Slug & Lettuce» und «Craft Union». Margaret Thatcher zerschlug das Monopol der Brauereien, denen früher die grosse Mehrzahl der Pubs angeschlossen waren. Tausende von Pubs waren nun billig zu kaufen. Das führte zur Formierung von «Pub-Firmen» wie eben Stonegate. Ohne Bindung an Brauereien konnten sie Preis und Sortiment selber bestimmen. Sie taten dies mit der bereits erwähnten «Happy Hour» und potenten Alcopops. Fast gleichzeitig entdeckte der Zeitgeist die Freuden von Clubs und Bars, Lokale mit massgeschneidertem Dekor, wo DJs bis in die Morgenstunden hinein für Schwung sorgten. Die Pubs wurden leerer und leerer.

Zwanzig Pence sind nicht mehr nichts

Von Anfang März bis Ende Juni sind in diesem Jahr 230 Pubs verschwunden. Entweder wurden daraus Wohnungen, Büros oder Immobiliengeschäfte. Im Vierteljahr vorher waren es deren 150 gewesen. Der «Vernichtungsprozess», der mit wandelnden Moden begann, ist inzwischen von allerhand anderen Kräften mächtig angetrieben worden. Covid zum Beispiel. Viele Stammgäste entdeckten während des Lockdowns, dass sie – erstens – Gesellschaft doch nicht so dringend brauchten, wie sie gedacht hatten, und – zweitens – dass es sie wesentlich billiger zu stehen kam, das Bier im Supermarket zu kaufen und daheim vor dem Fernseher zu konsumieren.

Wie alle Briten hatten sie eh mit dem erdbebenhaften Anstieg der Lebenskosten zu kämpfen. Zwanzig Pence sind in diesem Zusammenhang nicht mehr nichts. Nach meinen eigenen Beobachtungen wurde nach dem Ende des Lockdowns ein Drittel der vormaligen Stammgäste im McGlynn's nicht mehr gesehen.

Apropos Lebenskosten: Innert eines Jahres sind zum Beispiel die Kosten für Gas und Elektrizität für die Pubs um 80% angestiegen. Schwierig gestaltet sich dazu die Personalsuche. Die Löhne sind den Umständen entsprechend niedrig, die Arbeit ist hart und – Brexit-sei-Dank – fehlt es an abenteuerlustigen Student*innen aus EU-Ländern, die gewillt sind, unter solchen Bedingungen ein paar Groschen zu verdienen. Betroffen sind nicht nur die kleinen Eck-Kneipen. Im Februar gab ausgerechnet die Firma Stonegate bekannt, dass sie von damals 4492 deren 700–800 abstossen wolle. Es verwundert wenig, dass sie sich Gedanken macht darüber, wie die Einnahmen vergrössert werden könnten.

Mit der Ankündigung, bei vollem Pub die Preise hinaufzusetzen, traf sie wohl eher ungewollt einen Nerv: Briten rühmen sich ihres Gefühls für Fairness. Ein solcher Schritt, dazu noch in einer Hochburg der heissgeliebten Tradition, widerspricht diesem ziemlich radikal. Dabei gehört «Dynamic Pricing» längst zum britischen Alltag: Die Eisenbahnen zum Beispiel sind während der Stosszeit weitaus am teuersten – und garantieren für den Zaster nicht einmal einen Sitzplatz!

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