Sportökonom zum WM-Debakel «Ich habe das Gefühl, der FIFA ist inzwischen alles egal»

Von Gabriela Beck

22.11.2022

Die Kapitänsbinde «One Love», hier von Georginio Wijnaldum während der UEFA-Euro-2020-Meisterschaft getragen, wurde von der FIFA für die WM 2022 in Katar verboten.
Die Kapitänsbinde «One Love», hier von Georginio Wijnaldum während der UEFA-Euro-2020-Meisterschaft getragen, wurde von der FIFA für die WM 2022 in Katar verboten.
Alex Livesey/UEFA via Getty Images

Für Kritiker ist klar: Mit dem Verbot der «One Love»-Armbinde hat die FIFA die WM in Katar endgültig ins Aus geschossen. Ein Sportökonom rechnet mit dem Verband ab und sagt, worum es geht: Geld. Die FIFA richtet sich zunehmend nach Asien aus.

Von Gabriela Beck

Nati-Kapitän Granit Xhaka und seine Kollegen aus den Niederlanden, England, Wales, Deutschland, Belgien und Dänemark: Sie alle wollten eine vielfarbige Armbinde mit einem Herz während der Fussball-WM in Katar tragen – als Protest gegen die diskriminierenden Gesetze des Gastgeberlandes, das unter anderem Homosexualität unter Strafe stellt.

Daraus wird nun nichts.

Die FIFA hat die seit September angekündigte Kampagne mit der Androhung «sportlicher Sanktionen» bei Zuwiderhandlung – sprich: der Gelben Karte – im letzten Moment gestoppt. Damit handelte sich die FIFA scharfe Kritik der nationalen Verbände ein, allen voran des Deutschen Fussball-Bundes (DFB).

DFB kritisiert FIFA: «Zensur» und «Machtdemonstration»

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Die Spitze des Deutschen Fussball-Bundes hat das FIFA-Verbot für die «One Love»-Kapitänsbinde von Manuel Neuer scharf kritisiert. «Es handelt sich aus meiner Sicht um eine Machtdemonstration der FIFA», sagte DFB-Präsident Bernd Neuendorf am Montag im Teamquartier in Norden Katars.

22.11.2022

«Die FIFA hat heute eine Aussage für Diversität und Menschenrechte untersagt. Das sind Werte, zu denen sie sich in ihren eigenen Statuten verpflichtet. Das ist aus unserer Sicht mehr als frustrierend und auch ein beispielloser Vorgang in der WM-Geschichte, wie ich finde», sagte DFB-Präsident Bernd Neuendorf.

Sklavenarbeit und Überwachungs-Apps

Eingeknickt sind die europäischen Verbände trotzdem. Gespielt wird nun ohne Armbinde. Dem Debakel vorausgegangen waren Kritik an Menschenrechtsverletzungen, Berichte über Sklavenarbeit und unzumutbare Zustände auf den Baustellen der WM-Stadien. Dazu kamen Besucher-Apps als verpflichtende Auflagen für WM-Touristen, die sich auch für deren Überwachung eignen.

«Vom Moment der Vergabe an ist diese WM ein Skandal gewesen», sagt Sportökonom Andreas Will im Gespräch mit blue News. «Im Moment werden bei der FIFA Moral und Anstand für jeden sichtbar mit Füssen getreten, ohne dass es Konsequenzen hat.»

Schon als Katar 2010 den Zuschlag für die Ausrichtung der Fussball-WM 2022 erhielt, war die Entscheidung umstritten. Medienrecherchen legten damals nahe, dass Korruption im Spiel gewesen sei.

Eine Alibi-Frauen-Fussballmannschaft

Bezeichnend dafür ist das Schicksal der katarischen Frauen-Fussballnationalmannschaft. Sie wurde 2009 gegründet, ein Jahr vor der WM-Zusage. Die FIFA machte bei der WM-Vergabe damals zur Bedingung, dass Frauen- und Mädchenfussball gefördert wird.

Heute ist die Frauenmannschaft aus der FIFA-Weltrangliste verschwunden. Der Grund: Inaktive Teams – also solche, die mindestens 18 Monate nicht gespielt haben – fallen aus der Rangliste. 2014 bestritt das katarische Frauenteam sein letztes Länderspiel.

Die WM in Katar erinnere an «Sportwashing» – also den Versuch, das Ansehen des eigenen Landes durch die Durchführung von Sport-Events und deren positiven Reputation in den Medien zu verbessern, erklärt Experte Will. Dennoch stellt sich die Frage, warum sich die FIFA den Forderungen des WM-Gastgebers Katar dermassen unterordnet.

Es geht um Geld – ausschliesslich

«Das Verhalten der FIFA ist nicht mehr zu vermitteln», bestätigt der Sportökonom. «Ich habe das Gefühl, der FIFA ist inzwischen alles egal – Hauptsache, Katar pumpt auch in Zukunft weiter Geld in den Fussball», sagt Andreas Will. Denn darum gehe es beim Fussball in allererster Linie: um Geld – und zwar auf allen Ebenen.

«Im Kreisligaclub ist es der örtliche Unternehmer, der den Verein als Werbe-Plattform nutzt, bei der WM sind die Sponsoren internationale Unternehmen, die das Gleiche wollen. Es geht dann einfach um sehr viel mehr Geld», führt Will weiter aus.

Für Unternehmen gibt es tatsächlich kaum eine prominentere Werbebühne als die Fussball-WM. Sie ermöglicht es ihnen, knapp einen Monat lang ein globales Publikum zu erreichen. Visa und Adidas stehen ebenso auf der Sponsorenliste der diesjährigen WM wie Qatar Airways, Budweiser oder McDonald‘s.

Schadet Katar den Sponsoren?

Für einige von ihnen entwickelt sich die Situation in Katar jedoch gerade zum Super-GAU: Budweiser kann kein Bier in und um die Stadien verkaufen, Adidas bleibt in den Fan-Shops auf den Trikots sitzen. Interessant ist, dass keiner der Sponsoren Einspruch erhebt.

«Ich vermute, man möchte aus wirtschaftlichen Gründen niemanden verärgern», sagt Sportökonom Will. «Denn offensichtlich profitieren die Sponsoren immer noch von dem System, sonst würden sie nicht weiterhin Geld hineinpumpen.»

Auffällig ist, dass seit 2018 vermehrt Unternehmen als Sponsoren auftreten, deren Herkunftsländer Menschenrechtsfragen nicht zuoberst auf ihrer Prioritätenliste stehen haben. So unterschrieb der chinesische Mischkonzern Wanda Group 2016 einen Vertrag, der ihn zum ersten chinesischen Hauptsponsor der FIFA machte. Dieses Jahr ebenfalls unter den Geldgebern: die chinesische Technologiefirma Vivo, das indische E-Tech-Unternehmen Byjiu's und das chinesische Milch-Vertriebs- und Produktionsunternehmen Mengniu.

Die Fans wenden sich ab

«Die WM ist ein Spektakel des Geldes, das funktioniert aber nicht in der Öffentlichkeit», sagt Andreas Will. So haben in einer repräsentativen Onlineumfrage der Universität im deutschen Hohenheim 60,3 Prozent der 1'000 Befragten angegeben, von den WM-Sponsoren zu erwarten, dass sich diese über das Sponsoring hinaus auch sozial engagieren.

Der Lehrstuhl begleitet die FIFA-Fussballweltmeisterschaften seit 2001 mit regelmässigen Bevölkerungsbefragungen. Die Ergebnisse der Studie machen deutlich, dass die Teilnehmer*innen überzeugt sind, sportliche Grossveranstaltungen würden vom Gastgeberland instrumentalisiert, um von politischen Missständen abzulenken. Dementsprechend wollen 72,7 Prozent zur WM in Katar kein Geld für Fanartikel ausgeben.

Die Fans wenden sich ab.