Nahrungsmittel Fleisch aus dem Labor ist auf dem Vormarsch

awp/sda/mmi

5.10.2022

Grossverteiler wittern Potential für sogenanntes «Laborfleisch».
Grossverteiler wittern Potential für sogenanntes «Laborfleisch».
Getty Images/iStockphoto

Tierhaltung trägt wesentlich zum menschengemachten Klimawandel bei. Abhilfe könnte sogenanntes «Laborfleisch» – aus Tierzellen kultiviertes Fleisch – schaffen. Doch zuerst gilt es, die Konsumenten zu überzeugen.

awp/sda/mmi

Das Prinzip von kultiviertem Fleisch (In-Vitro-Fleisch) ist simpel: Fleisch soll in Zukunft nicht mehr durch Tiere schlachten erzeugt werden, sondern durch die Entnahme und Teilung ihrer Stammzellen, die neues Muskelgewebe erzeugen.

Die Muskelfasern werden in einem komplexen Prozess kultiviert. Sobald sich genug dieser Zellen gebildet haben, werden diese so geformt, dass sie aussehen wie herkömmliches Fleisch.

Schweizer Firmen wittern Potential

Schweizer Firmen haben das schlummernde Potenzial längst für sich entdeckt.

Die Migros errichtet gerade mit dem Genfer Aromen- und Duftstoffkonzern Givaudan und dem Maschinenbauer Bühler ein entsprechendes Forschungszentrum im Zürcherischen Kempthal.

Deren Konkurrentin Coop ist über die Tochtergesellschaft Bell am niederländischen Start-up Mosa Meat beteiligt. Dieses möchte schon bald kultiviertes Fleisch auf den Markt bringen.

Aber auch das Schweizer Start-up Mirai Foods arbeitet mit Hochdruck an Produkten aus kultiviertem Fleisch.

92 Prozent weniger Treibhausgas-Emissionen

Die Klimavorteile von kultiviertem Fleisch liegen auf der Hand. «Die Tierhaltung macht rund 20 Prozent der weltweiten Treibhausgas-Emissionen aus», sagt Ivo Rzegotta, der bei der Non-Profit-Organisation The Good Food Institute Europe (GFI) für den deutschsprachigen Raum zuständig ist, im Gespräch mit der Nachrichtenagentur AWP.

Damit sei die Tierhaltung für mehr Emissionen verantwortlich als der gesamte Transportbereich - also alle Autos, Flugzeuge, Schiffe und Bahnen zusammen.

Bei Rindfleisch etwa könnte die kultivierte Variante die Emissionen um bis zu 92 Prozent senken, den Wasserverbrauch um bis zu 78 Prozent. Zu diesem Schluss kommt das niederländische Institut CE Delft.

Geschmack ist Trumpf

So vielversprechend solche Zahlen tönen, errechnet wurden sie unter der Voraussetzung, dass sich kultiviertes Fleisch im industriellen Massstab herstellen lässt. Bis dahin sind aber noch einige Hürden zu nehmen.

Vor allem müssen auch die Konsumenten mitmachen. Ein wichtiger Punkt ist der Geschmack. Die Konsumenten wollen hier keine Abstriche machen, wie aus der Lebensmittelindustrie immer wieder zu hören ist.

Die Hoffnung der Anbieter ist aber, dass gerade kultiviertes Fleisch Konsumenten einnehmen kann, die der Geschmack pflanzlicher Fleischersatzprodukte nicht überzeugt. Denn im Grunde handle es sich hier um echtes Fleisch, so Rzegotta: «Das schmeckt wie Fleisch, riecht wie Fleisch und lässt sich auch genauso zubereiten.»

Steak aus dem 3D-Drucker

Das Schweizer Start-up Mirai Foods will in Sachen Geschmack gar die traditionellen Vorbilder übertreffen, wie CEO Christoph Mayr gegenüber AWP sagt. Interne Degustationen zeigten, dass man dem Ziel schon «sehr nahe» sei.

Zunächst dürfte dies aber vor allem für Produkte wie Hackfleisch oder Chicken Nuggets gelten - nicht zufällig handelt es sich beim ersten auf dem Markt erhältlichen Produkt in Singapur um Chicken Nuggets.

Schwieriger sieht es bei Fleisch am Stück aus. Unternehmen weltweit forschten aber intensiv daran, sagt Rzegotta von GFI. Und einige seien schon sehr weit, wenn es darum gehe, mittels technischer Verfahren wie 3D-Druck Muskel-, Fett- und Bindegewebe etwa zu einem Steak zusammenzusetzen.

Was ist schon natürlich?

Manch einer dürfte ob solcher Verfahren allerdings die Nase rümpfen: zu unnatürlich. Auch der renommierte Schweizer Agrarwissenschaftler Urs Niggli sieht da eine Hürde. Eben weil Laborfleisch nicht in der Natur produziert worden sei. Die Kuh auf der Weide verkörpere dagegen nicht nur eine ländliche Tradition, sondern sei auch «natürlicher».

«Selbstverständlich können wir solche Bedenken verstehen», sagt Mirai Foods-Chef Mayr. «Natürlich» sei aber ein relativer Begriff. Denn industrielle Landwirtschaft und Massentierhaltung und damit einhergehend auch der Einsatz von Antibiotika oder Mastfutter hätten mit «Natürlichkeit» nicht mehr viel zu tun.

Alles eine Frage des Preises

In der Schweiz würden gemäss einer Umfrage von Mirai Foods mit der ETH 20 bis 30 Prozent der Befragten kultiviertes Fleisch sofort probieren. Und in Deutschland zeigen sich je nach Umfrage 55 bis 60 Prozent der Befragten offen dafür.

Letztlich dürfte aber alles nichts helfen, wenn der Preis nicht stimmt. Die Fortschritte sind zwar beträchtlich - der erste kultivierte Rindfleisch Burger im Jahr 2013 hatte noch 150'000 Euro gekostet. Givaudan beziffert den Preis für ein Kilo kultiviertes Fleischs jüngst aber noch immer auf 15 Euro.

Das Institut CE Delft erwartet nun allerdings, dass bis zum Ende des Jahrzehnts kultiviertes Fleisch gleich viel kostet wie herkömmliches. Sollte kultiviertes Fleisch skalierbar werde, dürfte der Kilopreis 2030 bei 5 bis 6 Euro liegen.

Nur «wann» nicht «ob»

Für Mirai Foods stellt sich denn auch gar nicht mehr die Frage nach dem «Ob», nur noch nach dem «Wann». «Am Ende wird kultiviertes Fleisch günstiger, gesünder und geschmacklich besser sein als herkömmliches», zeigt sich CEO Mayr überzeugt.

Ausser Nostalgie gebe es dann keine Gründe mehr, sich nicht für kultiviertes Fleisch zu entscheiden, so Mayr weiter. Von Seiten der Politik kommt aus Sicht von Rzegotta daher aber (noch) zu wenig. Dabei ist für ihn klar: «Staaten sollten im Sinne des Klimaschutzes und der öffentlichen Gesundheit in die Forschung zu kultiviertem Fleisch investieren.»

Bisher handle es sich bei den Investitionen fast ausschliesslich um privates Kapital, es brauche aber mehr staatlich geförderte Grundlagenforschung, so Rzegotta weiter.

Private spekulieren derweil auf massive künftige Gewinne. Denn schon in einigen Jahren könnte hier ein Milliarden-Geschäft entstehen. McKinsey geht in einer Studie für das Jahr 2040 von einem Markt für kultiviertes Fleisch von 15 Milliarden britischen Pfund aus.

Nur «beschränktes» Potential

Auch Urs Niggli geht davon aus, dass kultiviertes Fleisch «in guter Qualität und zu konkurrenzfähigen Preisen» möglich sein wird. Als entscheidend für das bestehen am Markt erachtet er aber das Verhalten der Veganer.

«Da momentan aber vor allem die Nachfrage nach veganen Produkten rasch steigt, wird es entscheiden sein, ob Veganer Produkte aus Fleischzellen akzeptieren oder nicht», so der Agrarwissenschaftler.

Insgesamt schreibt er dem kultivierten Fleisch nur ein «beschränktes» Potential als Ersatz für die Schlachtung von Tieren zu. Denn wichtig sei, dass auch künftig Dauergrünland über Wiederkäuer wie Kühe oder Schafe erhalten bleibe. Sonst seien zu wenig Protein und vor allem zu wenig ernährungsphysiologisch sehr hochwertiges Protein vorhanden. «Ohne Graslandnutzung kann die Menschheit nicht ernährt werden», so Niggli.

Schweiz könnte auf EU folgen

So oder so dürfte es noch ein paar Jahre dauern, bis Produkte aus kultiviertem Fleisch in den Regalen der Migros oder vom Coop landen. Dafür dürften allein schon die hohe Sicherheitsstandards für eine Zulassung und bürokratische Mühlen sorgen.

Weltweit bereiten sich gerade alle auf Zulassungen vor, so Rzegotta. So gibt es in der EU bereits einen Zulassungsrahmen. Auch in den USA befindet man sich in der Endphase eines Regulierungsrahmens. Die Schweiz könnte auf die EU folgen, da dort zugelassene Produkte automatisch auch hierzulande verkauft werden dürfen.