40 Jahre HIV «Die Suche nach einem Zahnarzt kann schwierig sein»

Christiane Oelrich, dpa

6.6.2021

Plakate «LOVE LIFE»-Kampagne des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) im November 2016 in Zürich.
Plakate «LOVE LIFE»-Kampagne des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) im November 2016 in Zürich.
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Eine HIV-Diagnose ist immer noch ein Schock für viele Betroffene. Dank Medikamenten ist mittlerweile zwar ein halbwegs normales Leben möglich. Aber die Angst vor Ausgrenzung macht vielen das Leben schwer.

Christiane Oelrich, dpa

6.6.2021

Wenn Besuch im Haus ist, die Medikamente verstecken. Bei Kollegen wegen des regelmässigen Kontrollbesuchs bei der Ärztin Ausreden erfinden. Auf dem Parkplatz vor der HIV-Klinik schauen, dass einen niemand sieht. Das ist das Leben von Anja, die 2014 erfuhr, dass sie HIV-positiv ist.

«Es ist wie ein Doppelleben», sagt die 41-jährige Deutsche. Vor 40 Jahren, am 5. Juni 1981, berichtete die US-Gesundheitsbehörde CDC erstmals über die mysteriöse neue Krankheit. An der Diskriminierung, mit der viele Betroffene danach konfrontiert waren, hat sich zu wenig geändert.

Die Mutter von zwei kleinen Kindern aus Hessen nennt sich Anja. Nur ihr Mann, der ebenfalls HIV-positiv ist, weiss von ihrer Infektion. Sie möchte Spital, als sie mit einem Knochenbruch per Rettungswagen eingeliefert wurde und der Sanitäter sie in der Notaufnahme, wo sie die Infektion angab, anschrie, was ihr einfalle, das hätte sie sofort sagen müssen.

«Sag ich's den Freunden?»

Muss sie nicht, weiss Anja. Wenn die HIV-Infektion gut behandelt wird, ist die Virenlast so tief, dass sie nicht mehr nachweisbar ist. So können HIV-Positive andere auch nicht anstecken. Die Sache ist kein Einzelfall: Nach einer Umfrage der Deutschen Aidshilfe erlebt gut die Hälfte der HIV-Positiven immer noch Diskriminierung.

Kerzen vor dem Berner Bundeshaus am Welt-Aidstag am 1. Dezember 2004.
Kerzen vor dem Berner Bundeshaus am Welt-Aidstag am 1. Dezember 2004.
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Weltweit gab es 2019 circa 38 Millionen Infizierte weltweit. In der Schweiz leben rund 16'700 Menschen mit dem Virus. Knapp 100'000 Menschen lebten Ende 2019 in Deutschland mit HIV/Aids, knapp 11'000 davon wissen nach Schätzungen des Robert-Koch-Instituts davon nicht. Wenn eine HIV-Infektion nicht behandelt wird, schwächt das Virus das Immunsystem so stark, dass lebensgefährliche Krankheiten auftreten. Man spricht dann von Aids (Erworbenes Immunschwäche-Syndrom).

«Menschen, die mit HIV leben, sind jeden Tag mit diesem Problem konfrontiert: ‹Sag ich's dem Arbeitgeber, den Freunden, verstecke ich die Medikamente vor den Kindern? Was, wenn ich jemanden kennenlerne, soll ich es sofort sagen?›», erzählt Annette Haberl von der Deutschen Aids-Gesellschaft. Auch im medizinischen Bereich gebe es nach wie vor Vorurteile. «Die Suche nach einem Zahnarzt kann schwierig sein. Und es gibt immer die Angst vor Ablehnung, die die Menschen begleitet.»

Steigende Zahlen etwa in Osteuropa

Anja denkt manchmal darüber nach, offen über ihre Infektion zu sprechen. «Aber wenn man behandelt wird, als ob man die Pest hätte? Wenn die Kinder dann wie Aussätzige behandelt werden? Für einen der mit solchen Ängsten kämpfen muss, ist das schwer», sagt sie. «Man ist psychisch so labil, dass das eine Zumutung wäre.» Trotz der guten Medikamente schwinge neben aller Angst ja auch noch immer die Sorge mit, dass die Krankheit ausbrechen könnte.

So nimmt man im August 2018 in Zürich einen HIV-Selbsttest vor.
So nimmt man im August 2018 in Zürich einen HIV-Selbsttest vor.
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«Stigma und Diskriminierung sind eine der Ursachen dafür, dass die HIV-Pandemie weltweit nach 40 Jahren noch nicht zu Ende ist», sagt der deutsche Virologe Hendrik Streeck. Er spricht von einem traurigen Meilenstein. «Wir könnten die Pandemie viel besser eindämmen, als es der Fall ist.» In vielen Ländern müssten Menschen, die mit HIV infiziert sind oder ein erhöhtes Ansteckungsrisiko haben, im Verborgenen leben.

Viele liessen sich aus Angst und Sorge vor den Folgen nicht testen, oder es gebe kaum Testmöglichkeiten. «So gibt es derzeit noch zu viele Infizierte, die das Virus weitergeben können.» In Osteuropa und in Ländern wie Ägypten, Südsudan und Pakistan oder in Westafrika steige die Zahl der Neuinfektionen weiterhin an. Besondere Risikofaktoren sind ungeschützter Geschlechtsverkehr und das Teilen von Spritzbesteck beim Drogenkonsum.

HI-Virus mutiert schneller

Die Folgen der Corona-Pandemie auf die HIV-Infektionen seien noch nicht abzusehen, sagte Streeck. Vielerorts hätten sich weniger Menschen testen lassen, und viele hätten ihre Medikamente nicht mehr regelmässig bekommen. Das könne zu vielen Neuinfektionen führen, und viele Menschen könnten ernsthaft erkranken.

Ein Fackelumzug am Welt Aidstag am 1. Dezember 1990 in Zürich.
Ein Fackelumzug am Welt Aidstag am 1. Dezember 1990 in Zürich.
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Wie kommt es, dass Impfstoff gegen das Coronavirus so schnell entwickelte wurde, gegen das HI-Virus aber in 40 Jahren nicht? Es gehe um verschiedene Virenarten, sagt der Virologe Josef Eberle vom Max von Pettenkofer-Institut für Hygiene und Medizinische Mikrobiologie in München.

Das Coronavirus ändere sich zudem relativ langsam, das HI-Virus dagegen sehr schnell. «Schon in vier bis sechs Wochen entwickeln sich in einem einzigen HIV-Infizierten so viele Varianten wie beim Coronavirus weltweit nicht in einem ganzen Jahr», sagt Eberle. Zum anderen könne man beim Coronavirus Antikörper wie Sticker auf den Schlüssel des Virus für die Zelle «kleben», was das Eindringen verhindert. «Bei HIV sind die Oberflächenproteine auf den Viren dagegen gut versteckt», sagt Eberle.

«Die Kinder haben mir das Leben gerettet»

Wenn HIV einmal im Körper sei, bekomme man es nicht mehr raus – auch, wenn es mit Medikamenten gut unterdrückt werden könne, erklärt der Experte. Der Bauplan des Virus bleibe in langlebigen Zellen. Das Coronavirus sei anders: «Es muss sich ständig vermehren, sonst stirbt es aus.»

Eberle zweifelt, ob es je HIV-Impfstoffe geben wird. Streeck ist zuversichtlicher. Es laufen einige HIV-Impfstoffstudien. «Natürlich ist die HIV-Pandemie besser einzudämmen, wenn wir eine Heilung oder einen Impfstoff haben», sagt Streeck. «Aber beides ist noch in weiter Ferne.»

Der Zürcher Stadtrat Wolfgang Nigg stellt im März 1987 eine Präventionskampagne vor.
Der Zürcher Stadtrat Wolfgang Nigg stellt im März 1987 eine Präventionskampagne vor.
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Anja wünscht sich, dass mehr über HIV berichtet und geredet wird, dass Menschen lernen, dass keine Gefahr von HIV-Positiven ausgeht. Im medizinischen Bereich müsse besser geschult werden. Sie selbst empfand die Diagnose auch zuerst «wie ein Todesurteil».

Sie hat ihren Mann verflucht, der sie angesteckt hatte. Auch sie selbst musste erst Vorurteile abbauen und lernen mit HIV zu leben. «Die Kinder haben mir das Leben gerettet», sagt sie.