Vor 120 Jahren «Da sah ich einen Soldaten auf den Kopf zielen und Feuer geben»

Von Philipp Dahm

20.6.2020

Heute vor 120 Jahren wurde Clemens von Ketteler in Peking erschossen. Der Mord am deutschen Botschafter beim «Boxeraufstand» führte zu einer internationalen Allianz gegen China.

Die Chinesen haben genug davon, wie sie von den Europäern, Amerikanern und Japanern behandelt werden. Briten und Franzosen haben ihnen im Zweiten Opiumkrieg Konzessionen abgerungen und fluten das Land seitdem mit der Mohn-Droge. Sie hat fatale Auswirkungen auf die Gesellschaft: Für 1880 spricht man von rund 20 Millionen Süchtigen.

Es sind jene «Ungleichen Verträge» und die Arbeit christlicher Missionare, die den Hass auf die Ausländer schüren. Zuletzt haben 1898 Grossbritannien und Frankreich Peking mit solchen Dokumenten Territorien abgerungen – und natürlich behalten es sich die Staaten des Westens vor, allein zu entscheiden, was mit ihren Bürgern passiert, sollten diese Straftaten in China begehen. Genau genommen stehen die Fremden also über dem chinesischen Gesetz.

Diese Sonderrechte, auch das Unvermögen der eigenen Führung, sich gegen den Westen durchzusetzen, nationale Konflikte zwischen Reformern und Konservativen und nicht zuletzt Naturkatastrophen und Hungersnöte münden in einer Krisenstimmung – und diese eskaliert 1900.

Schon der Name «Boxeraufstand» zeigt, wie die Lage ist: Die chinesischen Widerstandskämpfer nennen sich selbst «Fäuste der Gerechtigkeit und Harmonie» und werden am 11. Januar 1900 von der regierenden Kaiserinwitwe Cixi als gesetzestreue Menschen anerkannt.

Jagd auf Christen

Nach Angriffen fordern die USA und Japan ein Verbot der Bewegung, das Mitte April 1900 auch erlassen wird, aber nicht durchgesetzt werden kann. Die «Boxer» sind einfach zu lose organisiert.

Erreicht wird sogar das Gegenteil: Reguläre Truppen in Peking und Tianjin schliessen sich der Bewegung an. Im Folgemonat kommt es immer öfter zu Ausschreitungen und es wird Jagd auf chinesische Christen gemacht: 73 Menschen sterben alleine am 18. Mai. Der Westen macht mobil und schickt Truppen in den Fernen Osten.

Von der US-Kavallerie internierte «Boxer» in Tianjin 1901 – das Bild wurde nachträglich koloriert.
Von der US-Kavallerie internierte «Boxer» in Tianjin 1901 – das Bild wurde nachträglich koloriert.
Bild: Gemeinfrei

Am 10. Juni landet ein gut 2'000 Mann starkes, internationales Expeditionskorps in China, das nach Peking ziehen will, um die westlichen Gesandten zu schützen. Es wird jedoch am 14. Juni von den «Boxern» gestellt und muss sich nach vier Tagen Gefecht zurückziehen.

In der Hauptstadt haben sich derweil rund 473 Ausländer, 451 Soldaten und mehr als 3'000 chinesische Christen verschanzt. Vor der Küste sammelt sich in jenen Tagen eine internationale Kriegsflotte, während in Peking die Häuser von Ausländern abgebrannt und chinesische Christen qualvoll ermordet werden.

Ultimatum an den Westen

Im Pekinger Botschaftsviertel ist die Lage zum Zerreissen gespannt: Die Eingeschlossenen arbeiten Hand in Hand. Ein österreichisches Maschinengewehr sichert die Zollstrasse im Norden, die Amerikaner haben ein Gatling Gun an der Gesandschaftsstrasse nach Westen platziert, während ein italienischer Einpfünder die Strasse gen Osten deckt.

Karte des Botschafterviertels in Peking.
Karte des Botschafterviertels in Peking.
Bild: Gemeinfrei

Die Russen bewachen die Südbrücke, die Engländer die Nordbrücke und die Kanalstrasse gen Norden. Am 19. Juni fordert Peking alle westlichen und japanischen Gesandten auf, das Land innert 24 Stunden zu verlassen. Zwei Tage zuvor hatte die westliche Flotte das Taku-Fort (alias Dagu-Fort) bei Tianjin gestürmt, was zu einem Aufschrei im Reich der Mitte führt.

Das Gemälde «Einnahme des Taku-Forts» von Fritz Neumann.
Das Gemälde «Einnahme des Taku-Forts» von Fritz Neumann.
Bild: Gemeinfrei

Die Diplomaten nehmen das Ultimatum an, bitten aber um Sicherheitszusagen und Transportmittel. Da auf das Ersuchen keine Antwort folgt, schreibt der deutsche Gesandte einen Brief, in dem er ankündigt, er werde deswegen am Folgetag um neun Uhr morgens am Hof vorstellig werden. Clemens von Ketteler vertritt dabei in Absprache seine ausländischen Kollegen.

Mord an von Ketteler

Am Morgen des 20. Juni 1900 machen sich von Ketteler und Heinrich Cordes auf den Weg. Der Botschafter lehnt Begleitschutz für die beiden Sänften ab: Der Hof ist von ihrem Kommen unterrichtet, und fremde Soldaten könnten allenfalls für Unruhe auf der Strasse sorgen. Cordes, Geschäftsmann und Dolmetscher, beschreibt in «Der Krieg in China» von 1909, was den Deutschen auf dem Weg passiert:

Clemens von Ketteler spricht als einziger ausländischer Diplomat die Landessprache – und deshalb soll er für die internationale Gesandschaft verhandeln.
Clemens von Ketteler spricht als einziger ausländischer Diplomat die Landessprache – und deshalb soll er für die internationale Gesandschaft verhandeln.
Bild: Gemeinfrei

«Da sah ich einen Soldaten der Bannertruppe, offenbar ein Mandschu, in voller Uniform […], vorwärts springen, seine Flinte etwa einen Meter von dem Fenster der Sänfte entfernt heben, auf den Kopf des Gesandten zielen und Feuer geben. In demselben Augenblick krachte der Schuss und die Sänfte wurde niedergesetzt.

Ich sprang auf die Füsse, erhielt aber einen Schuss in den Unterleib. Zwei mit Lanzen bewaffnete Leute verfolgten mich, sahen aber bald, wahrscheinlich weil sie fürchteten, dass ich Waffen bei mir führte, von der Verfolgung ab. Blutüberströmt schleppte ich mich vorwärts, oft durch Strassen voll von Chinesen, die meinen Zustand ohne Mitleid oder Bewegung ansahen und nicht einmal meine Fragen nach dem Wege beantworteten. […] Eine halbe Stunde nach der Ermordung des Gesandten erreichte ich die amerikanische Mission, wo ich am Eingang ohnmächtig zusammenbrach.»

Täter geköpft

Der Schütze wird drei Tage später notabene von japanischen Soldaten erwischt, als er von Kettelers Uhr verkaufen will. Der chinesische Soldat namens En-Hai wird der deutschen Delegation überstellt – und im Dezember 1900 wegen der Tat geköpft werden.

Unmittelbar nach dem Mord macht sich eine Allianz aus acht Nationen daran, ein Expeditionsheer auf die Beine zu stellen, das Anfang August von Tianjin aus gen Peking marschiert.

Neben dem Deutschen Reich, Grossbritannien, den USA, Russland und Japan beteiligen sich auch Frankreich, Italien und Österreich-Ungarn an dem unerklärten Krieg, wobei die drei letztgenannten aber keine Truppen mehr beisteuern können, bevor der Konflikt vorbei ist. Sie stellen – wie Berlin – nur einige Marineinfanteristen.

Kriegsgemälde: US-Truppen belagern Mitte August 1900 Peking.
Kriegsgemälde: US-Truppen belagern Mitte August 1900 Peking.
Bild: Keystone

Auch jene Soldaten, die Wilhelm II. mit der berüchtigten «Hunnenrede» verabschiedet, treffen nicht rechtzeitig in China ein: Der deutsche Kaiser hatte seinen Mannen aufgetragen, rücksichtslos zu hausen, auf «dass niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen!»

10,3 Milliarden Franken Reparation

Dem rund 20'000 Mann starken, alliierten Heer hat Peking nichts entgegenzusetzen. Ende September erreicht das Heer die chinesische Hauptstadt, es verliert rund 1'000 Mann, meist Russen und Japaner, im Kampf, geht aber bei der Eroberung alles andere als zimperlich mit Feinden wie auch Zivilisten um – so soll die Angst als solche vor einem erneuten Aufstand gegen Ausländer eingebläut werden.

Ab Oktober wird über Frieden verhandelt, der im September des folgenden Jahres wirksam wird. Die Bedingungen des «Boxerprotokolls» sind für China ein Schlag ins Gesicht.

Den «Boxern» ergeht es nach Friedensschluss schlecht: Viele werden wie hier öffentlich enthauptet.
Den «Boxern» ergeht es nach Friedensschluss schlecht: Viele werden wie hier öffentlich enthauptet.
Bild: Gemeinfrei

Allein die Reparationen sind deftig: Bis 1940 soll China die Summe von 70 Millionen Pfund Sterling zahlen, was heute einem Betrag von 8,66 Milliarden Pfund oder 10,3 Milliarden Franken entspräche. Zusätzlich muss Peking alle betroffenen Ausländer entschädigen. Der erste Artikel des Friedensschlusses gilt aber Clemens von Ketteler.

Der «Ketteler-Bogen» in Peking auf einem Foto von 1909.
Der «Ketteler-Bogen» in Peking auf einem Foto von 1909.
Bild: Gemeinfrei

An der Stelle, an der der Botschafter ermordet wurde, muss China ein Denkmal errichten, den «Ketteler-Bogen». Ausserdem muss Prinz Chun II. persönlich nach Berlin reisen, um sich bei Wilhelm II. zu entschuldigen.

Pekings einziger diplomatischer Erfolg: Der chinesische Royal muss dabei nicht wie gefordert vor dem deutschen Kaiser niederknien.

Bilder des Tages

Zurück zur Startseite