Soziologe über kulturelle Aneignung «Eigentlich ist es uferlos»

fts/tgab

27.7.2022

Mundart-Sänger Lauwarm (2. v. r.) und seine Band mussten ihren Auftritt abbrechen.
Mundart-Sänger Lauwarm (2. v. r.) und seine Band mussten ihren Auftritt abbrechen.
Instagram/lauwarm_music

Weisse Musiker spielen in Bern Reggae, das Publikum wirft ihnen «kulturelle Aneignung» vor. Was bedeuten diese Vorwürfe für unsere Gesellschaft? Soziologe Ueli Mäder von der Uni Basel erklärt.

fts/tgab

27.7.2022

Die Berner Mundart-Band Lauwarm musste seinen Auftritt in der Berner Brasserie Lorraine abbrechen, weil Gäste sich über sie beschwerten. Wegen «kultureller Aneignung» würden sie sich unwohl fühlen, hiess es. Was bedeutet dies konkret und ist die Reaktion des Publikums gerechtfertigt?

Kulturelle Aneignung bedeute einerseits die Vermischung von diversen Kulturen und andererseits die billige Variante, bei der man Teile einer Kultur übernimmt, und – sozusagen auf Kosten anderer – davon profitieren oder gar gewisse kulturelle Eigenheiten verbessern will, erklärt Ueli Mäder, Soziologie-Professor an der Universität Basel im Gespräch mit blue News.

Prof. Dr. Ueli Mäder
Ueli Mäder
© zVg

Ueli Mäder ist emeritierter Soziologie-Professor mit den Schwerpunkten Entwicklungssoziologie, Sozialpolitik und soziale Ungleichheit an der Uni Basel.

Debatte aus den USA nach Europa geschwappt

Die gesellschaftspolitische Debatte der «cultural appropriation» wird in den USA schon länger geführt. Im Kern geht es darum, dass Eigenheiten nicht von einer anderen Kultur übernommen werden dürfen, ohne auf die Herkunft hinzuweisen oder jene zu vermerken. So müssen Restaurantketten inzwischen deklarieren, sollte ihr Besitzer beispielsweise weiss sein, jedoch mexikanische Küche anbieten.

«Das geschieht aus einem Schutzbedürfnis gegenüber billiger Vereinnahmung heraus», erklärt Soziologe Mäder. Das sei zwar verständlich, doch je mehr deklariert werden müsse, desto mehr Auflagen werde es geben. Eigentlich sei es uferlos.

Die Debatte sei auch nicht neu, führt Mäder weiter aus: In den 1930er Jahren kamen viele Schwarze nach Paris, um dort ihr Studium zu absolvieren. Sie fingen an, die «Négritude» zu kultivieren – eine philosophische und politische Bewegung, die für die kulturelle Identität der afrikanischen Bevölkerung eintritt.

Dies, obwohl vorher immer geltend gemacht wurde, dass die Hautfarbe nicht mehr relevant sei. Die unterschiedlichen Hautfarben sollten nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden. «Und dann kam diese Bewegung, die Jean-Paul Sartre damals als ‹antirassistischen Rassismus› bezeichnet hat», so Mäder.

Publikum stört sich an Rastafrisuren der weissen Musiker

Im Fall des Lauwarm-Konzerts störte sich das Publikum daran, dass die weissen Bandmitglieder Rastafrisuren tragen und Reggae spielen, obwohl das nicht ihre Kultur ist.

Bandleader Dominik Plumettaz hat Mühe mit der Kritik: «Für uns war es extrem unangenehm, eine schwierige Situation. Wir fühlten uns total vor den Kopf gestossen», sagt er im Interview mit «20 minuten». Die Band sei zuvor noch nie mit dem Vorwurf der kulturellen Aneignung konfrontiert worden. Auch viele Leute im Publikum hätten nicht verstanden, warum das Konzert abgebrochen wurde. «Wenn man sich inspiriert fühlt und etwas Positives aus einer anderen Kultur mitnehmen und weitertragen kann, ist das doch megaschön», sagt Plumettaz.

Soziologe Mäder sieht das ähnlich: «In einer vielfältigen Gesellschaft gehört der Austausch dazu – solange es eben nicht eine einseitige Vereinnahmung ist.»