Mord vor 75 Jahren Identifikationsfigur, ohne es zu wissen – das Erbe der Anne Frank

Von Philipp Dahm

28.2.2020

Wie grausam die Judenverfolgung durch die Nazis gewesen ist, hat Anne Franks Tagebuch der ganzen Welt vor Augen geführt. Über ihre letzten Tage konnte sie jedoch nicht mehr selbst berichten.

Neun Tage – und ihre Geschichte wäre eine andere. Wäre der Zug nicht am 3. September abgefahren, hätten die kanadischen Soldaten, die am 12. September das niederländische Durchgangslager Westerbork erreichen, das Mädchen gerettet. Sie und 1'018 Leidensgenossen.

Ihre zumeist letzte, gut 1'000 Kilometer lange Reise führt sie erst mitten ins flammende Herz des fallenden Deutschen Reiches, bevor der Zug hinter Berlin Breslau ansteuert und dann Richtung Krakau rollt. Nach Auschwitz.

Als sich die Tore der Todesfabrik schliessen, auf denen der Spruch «Arbeit macht frei» prangt, und der Zug an der Rampe zum Stehen kommt, werden die Menschen nach Geschlechtern getrennt.

Nie wieder – Auschwitz.
Nie wieder – Auschwitz.
Bild: Keystone

Wer den Nazis nichts mehr nützt, wird danach aussortiert. Bei dieser «Selektion» fallen Alte, Kranken und Schwache durch. Und auch alle Kinder unter 15 Jahren. Im Zug aus den Niederlanden sind es 549 von 1'019. Nur weil Anne Frank keine drei Monate vor ihrem Eintreffen 15 wurde, überlebt sie ihre Ankunft im KZ.

Gnadenlos effizient

Was die Shoa einzigartig macht, ist das Unmenschliche in ihrer Planung. Die Todesfabrik ist gnadenlos effizient: Anne Frank und die 1'018 anderen aus dem Zug müssen sich erst ihrer Kleider entledigen, dann von den Nazis begutachten und schliesslich die Haare scheren lassen. Von ihrem Vater Otto ist Anne Franke da schon getrennt worden. Sie wird ihn nie wiedersehen.

Der Fotograf von Auschwitz

Die 549, die bei der Beschauung der NS-Ärzte und Lagerkommandanten auf der Rampe nicht bestanden haben, geben auch noch Brillen und Zahnprothesen ab, bevor sie in Gruppen in gekachelte Räume geschleust werden, aus deren Duschen der Tod strömt.

Die, die sich klagend in Ecken kauern, leiden lange, bis das Zyklon B sie hinwegrafft. Die, die das Grauen jenes Moments erfassen, heben hingegen ihre Kinder hoch an die Duschköpfe. So ersparen sie ihnen die Qual, in Hüfthöhe erst alle Erwachsenen sterben zu sehen, bevor das Gas auch zu ihnen heruntersinkt.

Todesmarsch nach Bergen-Belsen

Anne Frank, ihre Schwester Margot und Mutter Edith bekommen jedoch Lager-Tätowierungen und werden tagsüber zu Arbeit gezwungen, während sie nachts mit viel zu vielen anderen Frauen in eine Baracke gepfercht werden. Die hygienischen Zustände sind katastrophal.

Annes Mutter erkrankt schwer an Krätze, doch ihre Essensrationen schiebt sie dennoch durch ein Loch der Krankenstation ihren Kindern zu. Als Anne und Margot Ende Oktober 1944 mit 8'000 weiteren Frauen ins KZ Bergen-Belsen überführt werden, bleibt Edith zurück. Sie verhungert in Auschwitz.

Frauen ziehen im April 1945 auf einem Todesmarsch vom KZ Dachau durch Wolfratshausen.
Frauen ziehen im April 1945 auf einem Todesmarsch vom KZ Dachau durch Wolfratshausen.
Bild: Keystone

Bergen-Belsen in Niedersachsen zählt mit gut 7'000 Inhaftierten im Juli 1944 noch zu den kleineren Konzentrationslagern, doch die Zahl der Häftlinge schwillt bis Februar 1945 auf 22'000 an. Und das, obwohl seit dem Jahreswechsel eine Typhus-Epidemie das KZ erfasst hast, die 17'000 tötet.

Verlorenes Leben

In diesem Chaos verliert sich die Spur der Anne Frank. Sie wird noch von Bekannten im Lager gesehen – ausgezehrt und abgemagert. Es ist noch nicht einmal klar, wann ihr Lebenslicht erlischt: Während man früher annahm, sie sei im März gestorben, wird nun eher von Ende Februar ausgegangen.

Die britischen Befreier lassen KZ-Angestellte in Bergen-Belsen die Leichen beerdigen.

Ihr weltberühmtes Tagebuch hat Anne Frank in jener Zeit nicht mehr weiterführen können: Ab August war der 15-Jährigen das schon nicht mehr möglich. Und sie kann am Ende ihrer Tage auch nicht wissen, dass ihr so sinnlos anmutender Tod doch nicht umsonst war.

Es ist ihr Tagebuch, das gerade den jüngeren Deutschen die Augen öffnet, als ihr Vater Otto es veröffentlicht. Während der Holocaust in der Theorie merkwürdig abstrakt daherkommt, macht die persönliche Leidensgeschichte dieses Mädchens das Unrecht für eine ganze Generation praktisch greifbar.

Kampf gegen die Revisionisten

Wie wichtig die Dokumente waren, sind und sein werden, zeigt die Nachkriegszeit. Alt-Nazis und Revisionisten haben nach Kräften versucht, Anne Frank und ihre Familie in den Dreck zu ziehen. Die ersten antisemitischen Leugner treten in den 50er-Jahren in Skandinavien auf den Plan.

1959 muss Otto Frank sogar gerichtlicher Schritte einleiten, weil ein Lehrer in einem Leserbrief in einer Lübecker Zeitung behauptet, Annes Tagebuch sei eine Fälschung. Ein Vergleich der Handschrift zeigt jedoch, dass das Dokument authentisch ist. Nicht zuletzt fand der Nazijäger Simon Wiesenthal 1958 denjenigen SS-Mann, der die Franks in ihrem Versteck in Amsterdam aufspürte: Auch Karl Silberbauer bestätigte die im Tagebuch dargelegten Vorgänge.

Otto Frank an seinem 90. Geburtstag am 12. Mai 1979 in Birsfelden BL.
Otto Frank an seinem 90. Geburtstag am 12. Mai 1979 in Birsfelden BL.
Bild: Keystone

Dennoch musste Otto Frank auch 1976 wieder mit Ewiggestrigen vor Gericht kämpfen – gegen zwei Leugner gewinnt der Mann, der 1953 zum zweiten Mal heiratet und ab den 60er-Jahren in Basel lebt. Otto Frank stirbt 1980 in Birsfelden BR an Lungenkrebs.

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