Covid bei KindernDarum wird die Delta-Welle jetzt auch Kitas und Schulen treffen
Von Philipp Dahm
15.9.2021
Seit Schulbeginn haben in den USA die Corona-Infektionen bei Kindern um 240 Prozent zugenommen. Durch die Delta-Variante stecken sich zehnmal mehr Kleinkinder an. Die Schweiz bleibt trotz solcher Zahlen merkwürdig gelassen.
Von Philipp Dahm
15.09.2021, 14:46
15.09.2021, 16:07
Philipp Dahm
Die USA stehen vor ähnlichen Problemen wie die Schweiz: Mit dem Schulbeginn fragen sich Eltern, wie es nun um die Pandemie, die Gefahr einer Ansteckung ihrer Kinder und einen möglichen Schutz durch eine Impfung geht.
Die Wogen gehen hoch: Am 5. August drängt die American Academy of Pediatrics (AAP) die amerikanische Arzneimittelbehörde Food and Drug Administration (FDA), die Impfstoffe auch für unter-Zwölfjährige zuzulassen. Die Massnahme würde in den USA 48 Millionen Kinder in dieser Altersgruppe betreffen.
AAP-Präsidentin Lee Beers begründet den Vorstoss mit dem Verhältnis von «Risiko und Nutzen»: «Wir wissen, dass Covid dazu neigt, bei Kindern mild auszufallen», erklärt die Ärztin dem öffentlich-rechtlichen US-Sender PBS, «aber einige Kinder können trotzdem sehr krank werden.»
Die Mutationen erforderten jedoch neue Massnahmen: «Delta ist so viel mehr ansteckend, sodass auch sehr, sehr viel mehr Kinder erkranken. Ein kleiner Prozentsatz einer grossen Anzahl von Kindern ist eine wirklich grosse Zahl von Kindern.»
Hospitaliserungen bei Kleinkindern verzehnfacht
Die Situation in den Kinderspitälern sei überall dieselbe, sagt Beers. «Sie werden überrannt.» Die Impffrage werde «jetzt wirklich besonders akut und besonders dringlich», so die Medizinerin. Die FDA konterte in der vergangenen Woche, das übliche Prozedere werde beibehalten.
Die Nervosität wurde am Freitag von einer neuen Studie der Gesundheitsbehörde CDC befeuert, die sich mit Covid bei Kindern und insbesondere der Veränderungen durch die Delta-Variante beschäftigt: Durch die Mutation hat sich die Zahl der Hospitalisierungen von 0 bis 4-Jährigen verzehnfacht.
Das Thema hat in den vergangenen Wochen an Fahrt aufgenommen: Von Ende Juni bis Mitte August hat sich die Zahl aller Hospitaliserungen von Kindern und Jugendlichen verfünffacht. Zumindest betrifft die Delta-Variante Kinder nicht häufiger: Das Verhältnis der Hospitalisierungen im Vergleich zu Erwachsen ist nach dem Auftreten der Mutanten gleich geblieben.
Über zehn Prozent der Kinder mit Long Covid
Doch auch wenn die Pandemie Kinder seltener trifft und dann zumeist harmloser verläuft, gibt es auch unter ihnen jene, die die potenziell bösen Folgen der Ansteckung zu spüren bekommen: Israelische Daten zeigen, dass 11,2 Prozent der Kinder, die sich infizieren, an Long Covid leiden.
Die Daten wurden bei 13'864 Kindern und Jugendlichen zwischen 3 und 18 Jahren erhoben, so das Gesundheitsministerium. Die Wahrscheinlichkeit von Long Covid nimmt mit dem Alter zu, erklären die Israelis. Insgesamt war in dem Land bei mehr als 200'000 Kindern das Virus festgestellt worden, wobei die Hälfte davon einen asymptomatischen Verlauf hatte. Das heisst: Tausende von Kindern leiden in Israel unter Long Covid.
Das Fazit im Ausland ist also klar: Niemand sollte Panik verbreiten, aber Covid kann auch Kinder und Jugendliche treffen – und das mitunter hart. Wie reagiert die Schweizer Politik auf dieses Problem? Zumindest ist es erkannt: «Jugendliche und Kinder machen neben jungen Erwachsenen einen immer grösseren Teil der Neuansteckungen aus», sagt Rudolf Hauri.
Problem zeichnet sich in der Schweiz «seit Monaten ab»
Als der oberste Kantonsarzt gestern vor die Medien tritt, bleibt er im Weiteren jedoch eher im Ungefähren. «Generell ist dazu festzuhalten, dass die Ausgangslage von Schule zu Schule, von Schulhaus zu Schulhaus und von Klasse zu Klasse unterschiedlich sein kann», meint Hauri und bezeichnet den kantonalen Flickenteppich freundlich als «Vielfalt», die «unterschiedliche Gewichtungen der Massnahmen» nach sich zögen.
Das sieht die Virologin Isabelle Eckerle vollkommen anders. «Dass wir mit Delta ein ganz massives Problem bekommen an den Schulen, zeichnet sich seit Monaten ab,» meint die Leiterin der Abteilung Infektionskrankheiten am Genfer Universitätsspital. Statt die Lehreinrichtungen auf die Pandemie vorzubereiten, seien die Sommerferien ungenutzt geblieben.
Den Tamedia-Zeitungen sagt Eckerle, dass es schon 2020 einheitliche Regelungen hätte geben müssen. Weil die Datenlage Gemeinden und Schulen überfordere, hätte man eine Expertengruppe bilden und weitere Massnahmen empfehlen müssen. Dazu zählten die Impfung aller Erwachsenen oder die Maskenpflicht im Klassenzimmer.
«Alle Ungeimpften werden sich irgendwann anstecken»
Letzteres empfehlen auch die US-Behörden – selbst bei Kindern zwischen 0 und 4 Jahren. Die Schweiz ist hier noch zögerlich: «Mit repetetiven Reihentests und teilweiser Wiedereinführung der Maskenpflicht sollen der Präsenzunterricht aufrechterhalten und Schul-Schliessungen vermieden werden», so Hauri.
Wie sieht es mit weiteren Massnahmen aus? «Selbstverständlich ist das regelmässige Lüften, wobei der Einsatz zum Beispiel von CO2-Messgeräten oder Luftfiltern bisher nicht zum flächendeckenden Standard wurde«, weiss der oberste Kantonsarzt. «Mit den bereits erwähnten repitetiven Reihentests haben wir ein Instrument, das ältere Kinder und Jugendliche zuverlässig erfasst, bevor sie zur Verbreitung des Virus beitragen.»
Die Gretchenfrage bleibt mittelfristig wohl auch bei Kindern und Jugendlichen, ob sie geimpft sind oder wann sie sich sicher ihre Dosis holen können. Denn die Krux hat auch Hauri klar umrissen: «Auf Dauer werden sich wohl alle Ungeimpften irgendwann anstecken.»