Unerklärlich Schwaches Lohnwachstum in den USA gibt Rätsel auf

Josh Boak, AP

15.6.2018

Jerome Powell glaubt nach wie vor, dass ein stärkerer Arbeitsmarkt früher oder später Lohnzuwächse nach sich zieht. 
Jerome Powell glaubt nach wie vor, dass ein stärkerer Arbeitsmarkt früher oder später Lohnzuwächse nach sich zieht. 
dpa

Die Wirtschaft in den USA ist robust, die Arbeitslosigkeit gering. Mittlerweile mangelt es sogar an Fachkräften. Da sollte man eigentlich einen spürbaren Schub bei Löhnen und Gehältern sehen. Aber mitnichten.

Auch Jerome Powell, der mächtigste Notenbanker der Welt, hat keine Erklärung. Obwohl die US-Wirtschaft brummt und die Arbeitslosenrate auf den tiefsten Stand seit Jahrzehnten gesunken ist, sieht es im Portemonnaie der Arbeitnehmer nicht deutlich besser aus als zuvor. Arbeitgeber in den Vereinigten Staaten klagen, sie könnten offene Stellen nicht besetzen, es fehle an Fachkräften. Und trotzdem sind die Löhne und Gehälter bislang nicht spürbar gestiegen, jedenfalls nicht in den meisten Industriebereichen.

«Ganz gewiss» hätte er «stärkere Reaktionen» bei der Lohn- und Gehaltsentwicklung erwartet, sagte Powell, Chef der US-Notenbank Fed, als er am Mittwoch nach der jüngsten Zinsentscheidung darauf angesprochen wurde. Und er räumte ein, nicht sicher zu sein, warum sich seine Erwartung nicht bewahrheitet habe. Als einen wahrscheinlichen Faktor nannte er den relativ geringen Zuwachs der wirtschaftlichen Produktivität. Vereinfacht ausgedrückt: Die amerikanischen Arbeiter schöpfen nicht genügend zusätzlichen Wert für jede Stunde in ihrem Job.

Manche Volkswirtschaftler meinen, Unternehmen hätten zu wenig in Betriebsmittel investiert, die die Produktivität fördern. Aber auch das sind nur Spekulationen. «Es ist ein bisschen ein Rätsel», formulierte es Powell.

Auch das Anziehen der Inflation in den vergangenen Monaten ist für viele Arbeitnehmer eine Herausforderung. Fed-Vertreter schätzten am Mittwoch, dass sie bis Ende 2020 leicht über der jährlichen Zielrate von zwei Prozent liegen werde. Berücksichtigt man die Inflation, sind die durchschnittlichen Stundenlöhne im vergangenen Jahr unverändert geblieben, wie das Arbeitsministerium unlängst mitteilte. Die Bezüge von Arbeitern, die keine leitenden Positionen bekleiden, sind sogar leicht gesunken - und das trotz der Einstellungswelle im Zuge des seit neun Jahren anhaltenden Wirtschaftswachstums.

Manche Ökonomen meinen, dass die Gründe für die lahme Lohn- und Gehaltsentwicklung in Bereichen liegen, die nicht von der Fed beeinflusst werden können - also jenseits des Notenbank-Mandats liegen, mit Zinssätzen, Ankäufen von Vermögenswerten und öffentlicher Kommunikation Preise zu stabilisieren und die Beschäftigung zu maximieren. So zeigte etwa die liberale Denkfabrik Economic Policy Institute in einer 2016 veröffentlichten Studie auf, dass sich der seit längerem anhaltende Rückgang der Zahl von gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern nachteilig auf die Lohnentwicklung ausgewirkt hat.

Experten weisen zudem darauf hin, dass sich die Amerikaner zunehmend im Wettbewerb mit ausländischen Arbeitern befänden, die weniger verdienen. Dieser Faktor habe das Lohnwachstum in manchen Industriebereichen gedrückt.

Verschiedene Studien zeigen, dass höhere Bezüge in diesen Tagen hauptsächlich in ausserordentlich profitablen Technologie-Unternehmen vorkommen. Bei Facebook etwa lag das durchschnittliche Jahresgehalt im vergangenen Jahr bei mehr als 240'000 Dollar, wie aus öffentlich zugänglichen Unterlagen hervorgeht. Das ist ein himmelweiter Unterschied zu dem, was Arbeitnehmer bei vielen weniger gewinnträchtigen Firmen einstreichen.

Eine Rolle spielt wohl auch, dass die Zahl der Industriebereiche mit nur wenigen sehr grossen Arbeitgebern wächst. In solchen Fällen können die Arbeitgeber das Wachstum von Löhnen und Gehältern begrenzen, weil es für die Arbeitnehmer keine alternativen Jobangebote gibt.

Besteht die Aussicht, dass sich an all dem in absehbarer Zeit etwas ändert? Grössere Unternehmen etwa ihr Geld für Lohnerhöhungen verwenden statt - wie so häufig - für Rückkäufe von Anteilen?

Powell glaubt nach wie vor, dass ein stärkerer Arbeitsmarkt früher oder später Lohnzuwächse nach sich zieht. Aber mit Blick auf Firmen, die eher Investoren belohnen als Arbeitnehmer, fügte der Fed-Chef hinzu: «Wir haben wirklich nicht die Instrumente, die die Verteilung von Profiten (...) ansprechen.»

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