Dem R-Wert auf der Spur Schweizer Forscher fischen im Abwasser nach Antworten

SDA/gbi

15.12.2021 - 08:01

Das Klärwerk Zürich-Werdhölzli ist eine der Stationen, in dem die Forschenden ganz genau hinschauen.
Das Klärwerk Zürich-Werdhölzli ist eine der Stationen, in dem die Forschenden ganz genau hinschauen.
Bild: Keystone/Christian Beutler

Die Reproduktionszahl lässt sich in der Corona-Pandemie auch anhand des Abwassers berechnen – fast in Echtzeit. Ein Schweizer Forschungsteam legt nun eine Studie zu dem Verfahren vor, auf das sich auch die Taskforce verlässt. 

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Der R-Wert ist im Laufe der Pandemie auch Medizinlaien zu einem Begriff geworden. Die Reproduktionszahl gibt an, wie viele Personen eine infizierte Person im Durchschnitt ansteckt. Anhand dieses Indikators lassen sich die Dynamik einer Krankheitswelle und die Notwendigkeit sowie Wirksamkeit von Massnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus abschätzen.

Bislang basieren die Schätzungen zum aktuellen R-Wert auf klinischen Daten wie Fallzahlen, Hospitalisierungen oder Todesfällen. Ein Schweizer Forschungsteam um Jana Huisman von der ETH Zürich berichtet nun in einer Studie, dass sich auch Daten aus dem Abwasser für eine schnelle und kostengünstige Schätzung dieses Werts eignen würden. Die Studie ist jedoch noch nicht von unabhängigen Fachkollegen begutachtet worden.

Dynamik steht im Abwasser geschrieben

Im Zuge der Corona-Pandemie haben verschiedene Studien weltweit nachgewiesen, dass die Konzentrationen der aus dem Abwasser gefischten Erbbruchstücke des Coronavirus mit klinischen Fallzahlen korrelieren. Die Forschenden um Huisman gingen nun einen Schritt weiter und entwickelten ein mathematisches Modell, um die Reproduktionszahl mithilfe des Abwassers abzuschätzen.

«Anhand der Virenlast, die wir im Abwasser messen, können wir schätzen, wie viele Personen vom Virus infiziert sind, und die Dynamik über die Zeit verfolgen», erklärte Huisman in einer Mitteilung des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) vom Mittwoch. Damit liesse sich der R-Wert bestimmen.

In sechs Schweizer Kläranlagen

Das Team testete seinen Ansatz für zwei Kläranlagen, in der ARA Zürich-Werdhölzli sowie im kalifornischen San Jose (USA). Vorausgesetzt die Beprobung finde mindestens dreimal pro Woche statt, böten Abwassermessungen eine unabhängige Methode, um die Krankheitsdynamik zu verfolgen, lautet das Fazit der Forschenden.

Inzwischen verfolge man den Abwasser-R-Wert in sechs Kläranlagen in der Schweiz, sagte Huisman der Nachrichtenagentur Keystone-SDA: «Dieser hat sich auch über unsere Studie hinaus als guter Indikator für die Krankheitsdynamik in den jeweiligen Regionen bewahrheitet.»



Die wissenschaftliche Taskforce des Bundes stütze sich denn auch auf diesen aus dem Abwasser gewonnenen R-Wert, um ein «vollständigeres Bild der epidemiologischen Lage zu erhalten», so Huisman. An der vorliegenden Studie war auch Taskforce-Präsidentin Tanja Stadler als eine der Letztautorinnen beteiligt.

Nicht ohne Schwachstellen

Die Forschenden weisen aber auch auf einige Schwachstellen hin. Beispielsweise reagiere der R-Wert sehr empfindlich auf Schwankungen der Viren-Konzentrationen im Abwasser, wenn nur wenige Menschen im Einzugsgebiet der Kläranlage lebten.

So untersuchen sie derzeit, wie gross eine Kläranlage mindestens sein muss, um ein zuverlässiges Signal für den Abwasser-R-Wert zu erhalten. «Bei kleinen Anlagen hilft das Abwasser wahrscheinlich eher nachzuweisen, ob das Coronavirus überhaupt in der Bevölkerung zirkuliert», sagte Huisman.

Die zeitliche Dynamik der Epidemie liesse sich wohl eher nicht beschreiben. «Beispielsweise in England wurde unsere Methode bereits eingesetzt und es zeigte sich auch dort, dass diese für grössere Kläranlagen ein sinnvolles Signal zur Überwachung der SARS-CoV-2-Ausbreitungsdynamik bietet.»

Den Studienautorinnen und -autoren zufolge könnte der Ansatz nicht nur für die Überwachung des Coronavirus und dessen Varianten genutzt werden, sondern ebenfalls für andere Pathogene wie Noroviren oder Enteroviren. Insbesondere nützlich wäre dies für Erreger, für die es keine Meldepflicht gibt oder entsprechende Fallzahlmeldungen nur zeitverzögert vorliegen.