Modellrechnungen Bereits ein regionaler Atomkrieg könnte weltweite Hungersnöte auslösen

dpa

15.8.2022 - 17:01

1. November 1952: Die USA zünden auf einem Atoll der Marshall-Inseln im Pazifik die erste Wasserstoffbombe. (Archiv)
1. November 1952: Die USA zünden auf einem Atoll der Marshall-Inseln im Pazifik die erste Wasserstoffbombe. (Archiv)
Keystone

Ein Atomkrieg könnte durch Hungersnöte weit mehr Opfer verursachen als durch die eigentlichen Explosionen: Die in die Atmosphäre geschleuderten Russpartikel würden die Erde rasch abkühlen und Ernten stark reduzieren.

15.8.2022 - 17:01

Selbst ein regionaler Atomkrieg könnte weltweit Hungersnöte auslösen. Dies geht aus Modellberechnungen hervor, die die Auswirkungen eines solchen Krieges durch Russpartikel in der höheren Atmosphäre simuliert haben. Der Russ würde einen Teil des Sonnenlichts blockieren und zu Ernteausfällen führen. Forscher um Lili Xia und Alan Robock von der Rutgers University in New Brunswick (USA) stellten ihre Erkenntnisse im Journal «Nature Food» vor. Die Studie wurde beim Fachjournal bereits 2021 eingereicht und durch den üblichen Überprüfungsprozess erst Monate später gedruckt.

«In einem Atomkrieg würden auf Städte und Industriegebiete gerichtete Bomben Feuerstürme auslösen und grosse Mengen Russ in die obere Atmosphäre schleudern, der sich global ausbreiten und den Planeten schnell abkühlen würde», schreiben die Wissenschaftler.

Schlimmstenfalls sterben fünf Milliarden nur an Hunger

Xia, Robock und Kollegen entwarfen mehrere Kriegsszenarien und simulierten die Auswirkungen auf die Produktion einer ausgewählten Zahl an Lebensmitteln in den folgenden zehn Jahren. Im kleinsten berechneten Szenarium würden 100 Atombomben mit einer Sprengkraft von jeweils 15'000 Tonnen rund fünf Millionen Tonnen Russ in die obere Atmosphäre schleudern. In diesem Fall würden den Simulationen zufolge 27 Millionen Menschen direkt sterben und 255 Millionen Menschen durch Hungersnöte in verschiedenen Regionen der Erde.

Die Forscher berechneten auch die Auswirkungen eines atomaren Weltkriegs mit 4400 Atombomben zu 100'000 Tonnen Sprengkraft. Dadurch würden die verfügbaren Kalorien drastisch reduziert, in einigen Ländern um jeweils etwa 99 Prozent. Weltweit würden mehr als fünf Milliarden Menschen sterben, also mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung. Dabei sind die Folgen der radioaktiven Verseuchung noch gar nicht einkalkuliert. «Diese Daten zeigen uns eines: Wir müssen verhindern, dass ein Atomkrieg jemals geschieht», sagte Robock. Das Verbot von Atomwaffen sei die einzige langfristige Lösung.

In einem Kommentar in «Nature Food», schreibt Deepak Ray von der University of Minnesota in Saint Paul (USA): «Diese Arbeit ist ein Fortschritt im Vergleich zu früheren Studien.» Sie liefere neue Bewertungen der Ernährungssicherheit nach einem Atomkrieg auf nationaler und auf globaler Ebene unter einer Reihe von Kriegsszenarien. Die Anzahl der einbezogenen Feldfrüchte sei allerdings stark begrenzt gewesen und es gebe einige unklare Einzelaspekte, die analysiert werden sollten. Alles in allem aber diene die wissenschaftliche Erkenntnis aus dieser Studie als deutliche Warnung.

Weltweit existieren fast 13'000 Atomsprengköpfe

Von einer «sehr guten Studie» spricht Angelika Claussen von der Organisation IPPNW Deutschland (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges). Auch wenn andere Folgen wie der Zusammenbruch der medizinischen Versorgung nicht Studienthema gewesen seien, machten die Ergebnisse der Simulationen die dramatischen Folgen für die Weltbevölkerung deutlich.

«Das hilft uns in unserer Argumentation gegen jeglichen Einsatz von Atomwaffen und für den Beitritt zum Atomwaffenverbotsvertrag», sagt Claussen. Sie fordert alle neun Atommächte auf, gemeinsam einen Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen zu erklären. Bislang haben das einzeln nur Indien und China getan.

Die Atommächte haben nach Angaben der Federation of American Scientists insgesamt rund 12'700 Atomsprengköpfe, die meisten davon besitzen Russland und die USA. Indien und Pakistan haben zusammen über 300 Stück.

dpa