Ein europäisches Trauma Vor 400 Jahren: Fenstersturz löste den Dreissigjährigen Krieg aus

von Ruppert Mayr, dpa

22.5.2018

Vor 400 Jahren begann ein Drama, das noch heute auf eine Stufe mit den Katastrophen der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts gestellt wird - der Dreissigjährige Krieg, ein europäisches Trauma.

An diesem Mittwochmorgen, dem 23. Mai 1618, kurz nach 9.00 Uhr, befand sich Wilhelm Slavata in einer äusserst misslichen Lage - er hing in 17 Metern Höhe aus einem Fenster der Prager Burg. Der 46-Jährige, ein hoher Vertreter der Obrigkeit in den Ländern der böhmischen Krone, konnte sich gerade noch am Sims des Fensters festhalten, aus dem ihn fünf bewaffnete Männer kopfüber hinauswarfen - genauso wie kurz zuvor seinen Amtskollegen Jaroslav Borsita Graf von Martinitz.

Augenblicke später durchfuhr Slavata ein stechender Schmerz. Jemand schlug ihm mit dem Griff eines Schwertes auf die Finger. Irgendwann wurde der Schmerz unerträglich, er liess los und stürzte in die Tiefe. Am Fenstersims eines darunterliegenden Geschosses schlug er sich noch den Hinterkopf an, bevor er, so seine eigenen Erzählungen, im Burggraben auch noch mit dem Kopf gegen einen Stein stiess. Nachdem Slavata in der Tiefe des Burggrabens verschwunden war, konzentrierten sich die Angreifer auf dessen Sekretär, Philipp Fabricius von Rosenfeld. Und auch Fabricius folgte den beiden durchs Fenster in die Tiefe.

Dieser Vorfall ging als «Prager Fenstersturz» in die Geschichte ein. Er löste vor 400 Jahren den Aufstand der überwiegend protestantischen böhmischen Stände aus, der gemeinhin als Beginn des Dreissigjährigen Krieges gilt. Zuvor gab es bereits Unruhen. Erzherzog Ferdinand, der spätere Kaiser Ferdinand II., schränkte von 1617 an die Rechte der protestantischen Stände zusehends ein. Der Fenstersturz war quasi die Kriegserklärung der böhmischen Protestanten an den katholischen Kaiser. Dabei wollte eigentlich niemand einen Krieg - und schon gar keinen solchen verheerenden.

Ein Drittel der Einwohner des Heiligen Römischen Reiches verloren ihr Leben

Der Krieg, wenn man denn überhaupt von dem einen Krieg reden kann, veränderte die politische wie religiöse Landkarte Europas vollkommen, mit Konsequenzen bis in die Gegenwart hinein, schreibt der britische Historiker Peter H. Wilson von der Universität Oxford in seinem vor kurzem in Deutsch erschienenen Standardwerk. Eine solche Dimension militärischer Auseinandersetzungen hatte Europa bis dahin noch nicht gesehen.

Genaue Opferzahlen lassen sich nicht mehr ermitteln. Angenommen wird, dass von der Gesamteinwohnerzahl des Heiligen Römischen Reiches (Deutscher Nation) von 16 bis 18 Millionen Menschen im Jahre 1618 etwa ein Drittel ihr Leben direkt durch Kriegshandlungen oder indirekt durch Seuchen oder Krankheiten verloren. Manche gehen für ganz Europa von etwa acht Millionen Opfern aus. Die Zahl der Toten und die der Flüchtlinge sowie das Ausmass der Verwüstungen werden heute noch mit den Katastrophen des Ersten und Zweiten Weltkrieges verglichen.

Lange Zeit wurde das europäische Trauma als Glaubens- oder Religionskrieg verkauft. Doch inzwischen ist unbestritten, dass die Grenzen von Religion, Konfession, Nationalität sowie wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen quer durch die Frontlinien verliefen. Das ist insofern nicht verwunderlich, als damals in Europa Staat und Kirche, Politik und Religion - wie heute in manchen anderen Weltregionen - unauflöslich verbunden waren.

So verbündete sich etwa das katholische Frankreich mit deutschen, schwedischen oder niederländischen Protestanten gegen die katholischen Habsburger. Das katholische Frankreich und das katholische Spanien befanden sich lange in einem Kalten Krieg, der dann in den 1630er Jahren ausbrach, erläutert Wilson.

Marodierende Söldner als Plage

Andererseits waren unter den 67 Generälen und Obristen der im Juni 1637 bei Torgau liegenden schwedischen Regimenter nur 12 Schweden. Die anderen waren Deutsche, Finnen, Livländer, Böhmen, Schotten, Iren, Niederländer und Wallonen. Die kaiserlich-habsburgischen Truppen kamen entsprechend eher aus dem Süden Europas: Spanien etwa, Portugal oder Italien.

Es kämpften also Söldnerheer gegen Söldnerheer, die entscheidende Frage war für viele, wer am besten zahlte. Mit die grösste Katastrophe für die Menschen waren marodierende Söldner. Sie hielten sich, sobald sie nach einem Feldzug entlassen wurden oder aus anderen Gründen keinen Sold mehr bekamen, auf grausamste Weise an der Bevölkerung schadlos.

Alle drei Männer überlebten übrigens den Prager Fenstersturz. Das führte zu der Legende, die drei Katholiken wären in einem Misthaufen gelandet. Letzten Endes dürften vor allem die damals modernen dicken Mäntel, der durchnässte Boden im Burggraben und die schräg abfallende Burgmauer geholfen haben, den Aufprall abzumildern. Die kleinen Fenster hinderten die Angreifer auch daran, die ausgewachsenen Männer in hohem Bogen rauszuwerfen. Sie mussten eher mühsam rausgedrängt werden.

Den Misthaufen ersannen im Nachgang wohl die protestantischen Aufrührer. Sie hielten diese Erzählvariante der der Katholiken entgegen, wonach die Jungfrau Maria den dreien beigestanden habe.

Zwei der drei Gestürzten konnten jedenfalls gleich fliehen - Martinitz über die Grenze nach Bayern und Fabricius nach Wien, ins pulsierende Zentrum der Habsburger Monarchie und des Heiligen Römischen Reiches. Dort konnte er sogleich dem Kaiser die «Kriegserklärung» der Protestanten melden. Slavata musste sich eine Zeit verletzt versteckt halten, bevor auch er das Weite suchte.

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