Fake News im Kaiserreich Wie Sansibar Mythos und Helgoland deutsch wurde

Von Philipp Dahm

9.8.2020

Vor 130 Jahren, am 9. August 1890, übergeben die Briten die Nordseeinsel Helgoland an die Deutschen. Der Vorgang ist ein Lehrstück für strategische Machtpolitik, historische Fake News und koloniales Geschacher.

Fake News gibt es nicht erst seit Donald Trump – auch wenn es der US-Präsident war, der diesen Begriff unters Volk gebracht hat. Falschmeldungen sind seit jeher ein Instrument der Politik und müssen wohl dann als besonders erfolgreich erachtet werden, wenn sie sich hartnäckig halten.

In Deutschland ist das etwa bei der alten Mär der Fall, Hitler habe die Autobahnen gebaut – obwohl diese Infrastrukturmassnahmen schon in der Weimarer Republik beschlossen worden waren. In jener Weimarer Republik wiederum geisterte die Geschichte durchs Land, die deutsche Armee sei im Ersten Weltkrieg eigentlich «im Felde unbesiegt» geblieben.

Das ist natürlich Mumpitz, gehört aber in den Kontext der «Dolchstosslegende», mit der die Oberste Heeresleitung davon ablenkt, dass sie den Krieg verloren hat. Die Generäle fahren den Karren an die Wand, erklären 1918 dem Kaiser und den überraschten Politikern, dass die Lage aussichtslos ist – und schieben Letzteren dann die Schuld für den Versailler «Diktatfrieden» in die Schuhe.

Die «Dolchstosslegende» sollte 1918 vom Versagen der deutschen Obersten Heeresleitung ablenken. Die Nazis übernehmen die Ausrede und betonen deren antisemitische Komponente, wie dieses Plakat von 1942 beweist. Jene eigentlich haltlose Narrative des im Ersten Weltkrieg ungeschlagenen deutschen Heeres ist so stark, dass sie mitunter bis heute überdauert.
Die «Dolchstosslegende» sollte 1918 vom Versagen der deutschen Obersten Heeresleitung ablenken. Die Nazis übernehmen die Ausrede und betonen deren antisemitische Komponente, wie dieses Plakat von 1942 beweist. Jene eigentlich haltlose Narrative des im Ersten Weltkrieg ungeschlagenen deutschen Heeres ist so stark, dass sie mitunter bis heute überdauert.
Bild:  Gemeinfrei

Neben demokratischen Volksvertretern werden auch «Bolschewiken» und Juden zu Sündenböcken gemacht. Die «Dolchstosslegende» überdeckt die wahren Ursachen des verlorenen Krieges, kanalisiert die Wut der Deutschen über die Friedensbedingungen und hält sich hartnäckig bis weit in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.

Lügenpresse 1890

Noch älter ist der Seemannsgarn, der zwei Inseln betrifft, die deutsche Sehnsuchtsorte waren: Helgoland und Sansibar. Die Gewürzperle im Indischen Ozean und der Steinfels in der Nordsee, der am 9. August vom britischen Gouverneur an den deutschen Staatssekretär Karl-Heinrich von Boetticher übergeben wurde. Dass die ungleichen Eilande getauscht worden sind, sind Fake News, die bis heute Bestand haben.

Schon der verkürzte Name des Dokuments des Gebietstausches ist verfälschend und wurde bewusst in die Welt gesetzt: Helgoland-Sansibar-Vertrag. Der Grund: Die Übereinkunft zwischen London und Berlin befasst sich ausdrücklich mit «Kolonien und Helgoland» – es ging also um sehr viel mehr. Doch das ist dem Mann egal, der die Gerüchte über den Vertrag streut, den er auch noch selber ausgehandelt hat: Kein Geringerer als Otto von Bismarck verbreitet die Fake News vom Tausch Helgoland gegen Sansibar.

Otto von Bismarck auf einer undatierten Aufnahme.
Otto von Bismarck auf einer undatierten Aufnahme.
Bild: Gemeinfrei

Der «Eiserne Kanzler», der im März 1890 von Kaiser Wilhelm II. entlassen wurde, lädt Journalisten auf seinen Altersruhesitz nach Friedrichsruh im Sachsenwald bei Hamburg ein – und beklagt sich bitterlich über den deutsch-englischen Vertrag, der am 1. Juli 1890 unterzeichnet wurde. Von Bismarck verknüpft vorsätzliche Details, verkürzt Inhalte und verdreht sie: «Ein Rock gegen einen Knopf» sei da getauscht worden, diktiert der 75-Jährige den Reportern in die Schreibblöcke.

Einfache Slogans: Hose gegen Knopf

Der Vergleich vom Tausch einer Hose gegen einen Knopf macht schnell die Runde. Bismarcks Kritik stösst bei Kolonialisten und Nationalisten auf offene Ohren. Was die Stimmungsmache soll? Der Ex-Kanzler will mit der üblen Nachrede seinen Nachfolger diskreditieren, der für den «neuen Kurs» des jungen deutschen Kaisers steht.

Innenpolitisch steht jener Leo von Caprivi für einen Ausgleich – ein rotes Tuch für einen Hardliner wie Bismarck. Aussenpolitisch beruht der Vertrag auf seinen eigenen Vorverhandlungen – und gehört im Kolonialismus zum guten Ton.

Denn der «Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und dem Vereinigten Königreich über die Kolonien und Helgoland» umfasst jede Menge Grenzfragen, deren Klärung unabdingbar für aussenpolitische Stabilität ist. Wie viele Gebiete und Abtretungen das beinhaltet, zeigt untenstehende Bildergalerie. Der wohl wichtigste Faktor ist jedoch: Sansibar gehört dem Kaiserreich gar nicht.

Helgoland hingegen liegt am Eingang zur Deutschen Bucht und in Verlängerung des 1887 fertiggestellten Kaiser-Wilhelm-Kanals, der heute Nord-Ostsee-Kanal heisst. Nicht umsonst wird sofort nach der Übergabe der Insel mit dem Ausbau zur Festung begonnen.

Die Helgoländer selber sind ein eigenes Völkchen, das sich von der Geschichte nicht hat beeindrucken lassen. Obwohl die Bewohner Deutsche sind, sind sie gegen den Gebietstausch, wie englischer und deutscher Geheimdienst feststellen. Sie haben jedoch kein Mitspracherecht – für einmal sind also Deutsche beispielsweise Afrikanern gleichgestellt, denen territoriale Lösung gleichwohl nach dem Motto «Friss oder stirb» vermittelt wird. 

Als Helgoland noch seinen englischen Namen trägt, wird diese Insel zu einem Sehnsuchtsort der Deutschen, der «eigentlich deutsch sein» sollte. Die Nationalhymne ist auf diesem Felsen geschrieben worden. Nach Bismarcks Propagandaschachzug verkehrt sich die Sichtweise: Plötzlich ist Sansibar die exotische Perle im Indischen Ozean, deren Gewürze und orientalische Reichtümer nun in britische Hände fallen.

Pressepolitik: Bismarck, der Stänkerer

Bismarcks Pressepolitik hatte Erfolg: Nach zwei Jahren wirft Leo von Caprivi entnervt das Handtuch. Dem innenpolitisch reaktionären und aussenpolitisch genialen Bismarck kann man aus heutiger Sicht nur attestieren, das Thema Fake News perfektioniert zu haben, bevor Donald Trump den Begriff aufgegriffen hat.

Der Mann hat eine relativ belanglose diplomatische Nachricht Preussens an Frankreich derart gekürzt an eine deutsche Zeitung weitergegeben, dass sie wie eine Beleidigung der Republik klang. Die «Emser Depesche» verfehlt ihre Wirkung nicht: Frankreich erklärt 1871 einen Krieg, den Preussen nicht hätte erklären dürfen. Das Ergebnis: Preussen siegt – und gründet das Deutsche Kaiserreich.

Auch die Fake News vom Helgoland-Sansibar-Tausch tun ihre Wirkung – und unterstreichen die Effektivität der frühen Pressemanipulation. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet jener Otto von Bismarck das wohl erste Paparazzi-Opfer der Welt wird: Nach seinem Dahinscheiden dringen zwei ein Fotograf in seine Gemächer in Friedrichsruh ein und fotografieren die deutsche Ikone auf seinem Sterbebett.

Vielleicht würde Bismarck das heute höchstselbst «Quidproquo» nennen.

Otto von Bismarck starb am 30. Juli 1898 gegen 23 Uhr. Ein bestochener Förster informierte die beiden Hamburger Fotografen Willy Wilcke und Max Priester, die gegen vier Uhr morgens am 31. Juli durch ein Fenster in das Anwesen eindrangen und Bismarck auf dem Totenbett fotografierten. Sie drapierten noch seinen Kopf und verstellten die Uhr.
Otto von Bismarck starb am 30. Juli 1898 gegen 23 Uhr. Ein bestochener Förster informierte die beiden Hamburger Fotografen Willy Wilcke und Max Priester, die gegen vier Uhr morgens am 31. Juli durch ein Fenster in das Anwesen eindrangen und Bismarck auf dem Totenbett fotografierten. Sie drapierten noch seinen Kopf und verstellten die Uhr.
Bild:  Gemeinfrei
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