Grosser Rat BE Pionierhaftes Gesetz stärkt Selbstbestimmungsrecht von Behinderten

pa, sda

7.12.2022 - 09:55

Menschen mit einer Behinderung sollen im Kanton Bern mehr Autonomie erhalten. (Symbolbild)
Menschen mit einer Behinderung sollen im Kanton Bern mehr Autonomie erhalten. (Symbolbild)
Keystone

Im Kanton Bern sollen Menschen mit Behinderung künftig selber entscheiden, wo und wie sie leben wollen. Möglich wird dies durch einen Paradigmenwechsel bei der Finanzierung von Leistungen. Der Grosse Rat beriet am Mittwoch die entsprechende Gesetzesvorlage.

Mit dem Gesetz über die Leistungen für Menschen mit einer Behinderung kommt der Kanton Bern weg von einer Pauschalabgeltung für Institutionen. Stattdessen fliesst die Hilfe direkt den Betroffenen zu, die dadurch entweder einen Heimaufenthalt oder ambulante Unterstützungsangebote finanzieren.

Mit dem Systemwechsel von der Objekt- zur Subjektfinanzierung soll künftig auch möglich sein, dass Behinderte Unterstützungsleistungen von betreuenden Angehörigen entschädigen können. Das ist schweizweit ein Novum.

Kanton Bern als Vorreiter

«Wir freuen uns, dass der Kanton in diesem Bereich vorwärts geht», erklärte EVP-Sprecherin Simone Leuenberger, die als Betroffene selber Assistenzleistungen bezieht. Das Gesetz werde die Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderungen nachhaltig verändern.

Auch andere Fraktionssprechende würdigten die Pionierrolle des Kantons Bern in diesem Bereich. Das Modell, das über Bundesrecht hinausgeht, hat Mehrkosten von jährlich 20 Millionen Franken zur Folge.

In der Detailberatung zu reden gab die Frage, wer zum Kreis der Familienangehörigen zählen soll. Denn im Gegensatz zu den Assistenzpersonen, die vom Betroffenen angestellt und entlöhnt werden, erhalten Angehörige lediglich eine Entschädigung. Diese fällt tiefer aus als ein Lohn.

Der Gesetzesentwurf zählt nebst den direkten Angehörigen auch Verwandte bis zum vierten Grad, Schwägerinnen und Schwäger sowie Stiefeltern und Stiefkinder zum Kreis der Angehörigen. Die EVP plädierte für eine engere Definition. Eine solche würde aber höhere Kosten verursachen.

Strittige Fragen zurück in Kommission

Schliesslich wies der Rat diese Frage zur Überprüfung an die vorberatende Kommission zurück. Ebenfalls nochmals über die Bücher muss die Kommission bei der Frage, inwiefern beim Zuzug aus einem anderen Kanton eine Frist für die Anspruchsberechtigung gelten soll.

Weiter wird das Parlament erst in der zweiten Lesung entscheiden, wer die individuelle Bedarfsabklärung für die rund 8000 Betroffenen vornimmt. Klären muss die Kommission auch, wie sichergestellt werden kann, dass auch Minderjährige Zugang zu Assistenzleistungen haben.

Nichts wissen wollte das Parlament von der Schaffung einer beratenden Begleitkommission, wie ihn die Minderheit der vorberatenden Kommission verlangte. Keine Mehrheit fand zudem ein Antrag, auch Asylsuchenden ohne IV-Rente Zugang zu Leistungen zu gewähren.

Inkrafttreten 2024 geplant

Der Rat stimmte der Vorlage in der ersten Lesung einstimmig zu. Definitiv unter Dach gebracht wird das Gesetz in einer zweiten Lesung im kommenden Jahr. Bis dahin sollten auch die Details der Ausführungsverordnung der Regierung vorlegen. In Kraft treten soll die Neuerung am 1. Januar 2024.

Für die Kantonale Behindertenkonferenz stellt die Vorlage ein «wichtiger Meilenstein zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts» dar, wie sie im Vorfeld der Debatte schrieb. Am Mittwoch waren zahlreiche Betroffene als Zuschauende im Rathaus präsent. Im Saal übersetzte eine Gebärdendolmetscherin einen Teil der Debatte.

pa, sda