Im zweitinstanzlichen Prozess gegen einen Bergführer hat am Mittwoch die Staatsanwaltschaft vor dem bernischen Obergericht einen Schuldspruch verlangt. Der Bergführer ist der fahrlässigen Tötung angeklagt, nachdem im Jahr 2011 ein Mädchen auf einem Kletterausflug ums Leben kam.
Der Bergführer war mit dem Mädchen und seiner Freundin zunächst in einem Seilpark und einem Klettergarten bei Adelboden unterwegs. Dort konnten sich die beiden Jugendlichen mit verschiedenen Techniken vertraut machen.
Der heute 48-jährige Bergführer beurteilte die beiden Mädchen im Verlauf des Vormittags als trittsicher, angstfrei, vital und fit. So beschloss er, am Nachmittag mit ihnen in die Cholerenschlucht etwas unterhalb von Adelboden zu fahren, wo sie sich über die Felswand abseilen wollten.
Auf dem Pfad zum Abseilpunkt, den die Gruppe noch ohne Sicherung beging, stolperte das zuhinterst gehende Mädchen, rutschte über einen kurzen Abhang und stürzte 50 Meter tief in die Schlucht. Auf dem Weg ins Spital erlag die 13-Jährige ihren Verletzungen.
Das erstinstanzliche Regionalgericht Berner Oberland sprach den Bergführer 2017 im Jahr 2017 frei. Da dieses Urteil von Angehörigen angefochten wurde, steht der Bergführer seit Dienstag vor dem bernischen Obergericht.
Kehrtwende
Die Anwälte der Angehörigen des Opfers hatten bereits am Dienstag einen Schuldspruch gefordert. Der Bergführer habe seine Sorgfaltspflicht verletzt und sei unerlaubt hohe Risiken eingegangen.
Am Mittwochmorgen war die Reihe an der Staatsanwaltschaft. Anders als noch vor der ersten Instanz, plädierte der stellvertretende Generalstaatsanwalt vor Obergericht nun ebenfalls für einen Schuldspruch.
Er beurteilte die Wahrscheinlichkeit eines Sturzes an dieser Stelle höher als die erste Instanz. Hätte der Bergführer die beiden Mädchen bereits auf dem Zustiegspfad gesichert, wäre der Unfall nicht passiert.
Das Verschulden des Angeklagten taxierte er jedoch als leicht. Der Bergführer sei zu einer bedingten Geldstrafe von 90 Tagen zu 130 Franken zu verurteilen, dies bei einer Probezeit von zwei Jahren, lautete der Antrag der Staatsanwaltschaft.
Das Restrisiko
Der Verteidiger forderte für seinen Mandanten einen Freispruch. Der langjährige Bergführer verfüge über grosse Erfahrung, namentlich auch im Umgang mit Jugendlichen.
Der Bergführer habe keine Anzeichen gesehen, dass die Mädchen linkisch, ängstlich oder unvorsichtig waren. Sie erschienen ihm vielmehr als trittsicher und motiviert.
Vor diesem Hintergrund habe er die beiden Teenager auf dem Zustieg in die Cholerenschlucht auch nicht anseilen müssen. Der Tour-Guide habe die Mädchen sehr wohl sensibilisiert, dass sie auf den Pfad acht geben und schauen sollen, wo sie hintreten.
Der Verteidiger verwies auch auf die Einvernahme des überlebenden Mädchens. Dieses sagte nach dem Unglück, es habe nach den Instruktionen des Bergführers vor dem Pfad Respekt gehabt, aber keine Angst.
Schliesslich warnte der Verteidiger auch davor, das Verhalten des Bergführers aus heutiger Perspektive mit dem Wissen um den tödlichen Vorfall zu betrachten. Nur weil die Stelle heute mit einem Fixseil gesichert sei, heisse das nicht automatisch, dass der Bergführer damals gegen die Regeln der Kunst verstossen habe.
Der Verteidiger sprach in seinem Plädoyer auch das Verhältnis unserer heutigen Gesellschaft zum Risiko an. "Heute hinterfragen wir alles, sogar, ob ein Badibesuch einer Schulklasse verantwortbar ist." Früher habe die Gesellschaft mehr Risiken als selbstverständlich hingenommen. "Man muss aber im Leben zulassen, dass es ein Restrisiko gibt, sonst darf man sich nicht mehr aus dem Haus wagen."
Der Bergführer selber äusserte sich vor Obergericht ruhig, sachlich und mitfühlend zum Vorfall. Auch acht Jahre nach dem Unglück war bei allen Betroffenen spürbar, wie sehr sie das Geschehene noch immer beschäftigt. Das Obergericht wird sein Urteil am kommenden Freitag bekannt geben.
Zurück zur Startseite