Soziales Systemwechsel bei der Behindertenfinanzierung reif für Grossen Rat

sr, sda

8.7.2022 - 14:15

Menschen mit Beeinträchtigungen sollen im Kanton Bern dank dem neuen Gesetz künftig besser bestimmen können, welche Unterstützung für sie gut ist. (Archivbild)
Menschen mit Beeinträchtigungen sollen im Kanton Bern dank dem neuen Gesetz künftig besser bestimmen können, welche Unterstützung für sie gut ist. (Archivbild)
Keystone

Nach langer Vorbereitung legt die Berner Kantonsregierung das neue Gesetz über die Leistungen für Menschen mit einer Behinderung dem Grossen Rat vor. Als einer der ersten Kantone will Bern damit wegkommen von der Pauschalabgeltung für Institutionen und stattdessen Hilfe direkt den Betroffenen zukommen lassen.

Keystone-SDA, sr, sda

Künftig entschieden die Behinderten selber, wie und wo sie leben wollten und von wem sie betreut würden: Das sagte der bernische Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektor Pierre Alain Schnegg bei der Präsentation des Gesetzesentwurfs am Freitag vor den Medien in Bern.

Für die Behinderteninstitutionen bedeutet der Systemwechsel laut Schneggs Direktion, dass sie künftig ihr Geld nicht mehr vom Kanton, sondern von den Menschen mit Beeinträchtigungen erhalten, welche sie betreuen.

Der Wechsel werde auch dazu führen, dass Behinderte weniger rasch einen Heimplatz benötigten, schreibt Scheggs Direktion in einer Mitteilung. Dies, wenn die Behinderten künftig ambulante Unterstützungsangebote in Anspruch nehmen und diese auch selber bezahlen können. Neu soll es nämlich möglich sein, dass Behinderte Unterstützungsleistungen von betreuenden Angehörigen entschädigen können.

Laut Eveline Zurbriggen, stellvertretende Generalsekretärin in Schneggs Departement, haben auch andere Kantone schon den Wechsel von der Objekt- zur Subjektfinanzierung vorgenommen, wie dies der Kanton Bern nennt. Doch bei gewissen Elementen gehe der Kanton Bern anderen Kantonen voraus.

Dies etwa eben bei der Finanzierung von Unterstützungsleistungen Angehöriger. Am Mittwoch hat die Berner Regierung das neue Behindertenleistungsgesetz (BLG) zuhanden des Kantonsparlaments verabschiedet.

«Individueller Hilfeplan» als Basis

Wenn ein zu Hause wohnender Behinderter künftig auf der Basis des BLG Betreuungsleistungen beziehen will, wird laut den Worten von Manuel Michel der Bedarf zuerst mit einem «Individuellen Hilfeplan» ermittelt. Michel ist Vorsteher des kantonalen Amts für Integration und Soziales.

Diese Assistenzdienstleistungen können die Behinderten bei anerkannten Dienstleistern «einkaufen» – wie das beispielsweise Kranke bei der Spitex tun. Die Behinderten können aber auch etwa Nachbarn oder Angehörige einspannen – und sie eben neu dafür entschädigen. Menschen, welche Behinderte betreuten, erhielten damit eine wohlverdiente Wertschätzung, sagte Michel.

Behinderte, welche in einer Behinderteninstitution leben, schliessen mit dieser Institution künftig individuelle Verträge ab. Sie können Leistungen auch von ausserhalb ihrer Institution beziehen.

Ob zu Hause oder in einer Institution: Das BLG ermögliche individuelle Lösungen und bedeute mehr Autonomie für die Behinderten, mehr Wahlfreiheit und mehr Eigenständigkeit, so Michel.

BLG-Projektleiter Martin Schori sagte, die Informatikplattform «AssistMe» werde die zentrale Abrechnungsplattform für die Abrechnung der Leistungen. Der Mensch mit Behinderung entscheide jeweils durchs Quittieren einer Leistung, ob eine Zahlung fliesse oder nicht.

Für Bauten oder Umbauten von Behinderteninstitutionen zahlt der Kanton Bern künftig diesen Institutionen eine Infrastrukturpauschale. Dies ist schon im Kinder-, Alters- und Jugendbereich der Fall.

Mehrkosten 20 Millionen

Laut Schori geht der Kanton Bern von etwa 8000 Personen aus, welche im Kanton Bern künftig vom BLG erfasst werden. Heute leben etwa 3300 behinderte Menschen in Institutionen. Der Kanton Bern geht deshalb von Mehrkosten in der Höhe von 20 Millionen Franken pro Jahr aus.

Laut Zurbriggen hat der Systemwechel gemäss Studien in Deutschland dazu geführt, dass zwischen drei und fünf Prozent der Behinderten ihr Umfeld wechselten, also beispielsweise aus einem Heim auszogen und sich ambulant betreuen liessen.

Prisca Lanfranchi, Geschäftsführerin der Kantonalen Behindertenkonferenz Bern (KBK), sagte am Freitag auf Anfrage, ihre Organisation gebe noch keine Stellungnahme ab zum BLG ab. Der Entwurf müsse zuerst in Ruhe geprüft werden. Die KBK freue sich aber, dass das Gesetz jetzt vorliege.

Wenn nötig werde sich die KBK mit ihren Anliegen vor der parlamentarischen Beratung des BLG melden. Laut Schnegg ist das BLG so gut getestet, dass es nach der Inkraftsetzung «wie auf Knopfdruck» in Betrieb genommen werden kann. Diese Inkraftsetzung ist per Januar 2024 geplant.