Sexuelle Ausbeutung Sexuelle Übergriffe beim «Dökterle» werden meist verharmlost

SDA

6.5.2019 - 14:09

Sexuelle Ausbeutung unter Kindern ist ein Tabu. Das «Dökterle» aus dieser Tabuzone herausholen soll die Publikation «Wo das Spiel aufhört – Sexuelle Übergriffe unter Kindern». Herausgegeben hat sie die Beratungsstelle Castagna.

Castagna ist eine Informations- und Beratungsstelle für sexuell ausgebeutete Kinder, Jugendliche und in der Kindheit ausgebeutete Frauen und Männer. Sie ist eine vom Kanton Zürich gemäss Opferhilfegesetz anerkannte Beratungsstelle. Trägerschaft ist ein Verein.

Das neue Castagna-Themenheft soll eine Orientierungshilfe sein für Eltern, Angehörige, andere Bezugs- und Betreuungspersonen sowie Fachleute. Es konzentriert sich auf Übergriffe unter Kindern bis zwölf Jahre.

«Dass sexuelle Übergriffe unter Kindern oft nicht wahrgenommen oder verharmlost werden, hat damit zu tun, dass Eltern oder Betreuungspersonen diese falsch einschätzen oder interpretieren», sagte Regula Schwager, Castagna-Co-Leiterin, Psychologin und Psychotherapeutin, am Montag vor den Medien in Zürich.

Denn die kindliche Sexualität gilt laut Schwager in der Regel als «unschuldig und absichtslos». Kinder sind aber keine asexuellen Wesen. «Schon Dreijährige beginnen bei Spielen mit Gleichaltrigen ihre Körper zu erkunden.»

Beim «Dökterle» sei die Freiwilligkeit ein zentrales Merkmal, sagte Schwager weiter. Zudem seien die Handlungen alters- und entwicklungsgemäss. Und in der Regel seien nur zwei Kinder beteiligt. «Sobald mehr Kinder involviert sind, wird es aufgrund der Gruppendynamik schwieriger, Stopp oder Nein zu sagen.»

«Tätliche» Kinder

Übergriffige Kinder – Schwager spricht von «tätlichen Kindern» – versuchen laut Schwager durch erzwungene Sexualität meist Überlegenheits- und Machtgefühle zu erleben. «Sie kompensieren damit oft eine eigene Not.» Deshalb müssten sie lernen, mit ihren Ohnmachtsgefühlen anders umzugehen.

Je früher ein tätliches Kind erfasst und therapiert werde, desto grösser sei die Chance, dass es einen anderen Umgang mit seinen Ohnmachtsgefühlen lerne und folglich nicht in eine Spirale gerate, wo der Schweregrad der Übergriffe stets zunehme.

Dem Kind müsse die Botschaft vermittelt werden: «Du bist okay, aber was du tust, ist nicht okay.» Bis zum 12. Lebensjahr üben «eher Mädchen» sexuelle Gewalt aus, danach sind es «fast nur noch Buben», wie Schwager sagte.

Wichtig ist laut Schwager jedoch nicht nur ein fachlich abgestütztes Einschreiten beim tätlichen Kind, sondern auch beim Opfer. Dieses sei stets verwirrt und traumatisiert, denn meist erfolge der Übergriff ja von einem befreundeten Kind. Der Kontakt zwischen den beiden müsse nach einem Übergriff jedoch unterbunden werden.

Übergriffe unter Kindern keine Seltenheit

Über die Häufigkeit von sexuellen Übergriffen, bei denen Kinder tätlich sind, gibt es keine gesicherten Erkenntnisse. Einig sind sich die Fachleute aber, dass Grenzverletzungen häufig sind und in vielen Fällen nicht bekannt werden.

Die Jugendanwaltschaft in Zürich hat von 2015-2017 insgesamt 99 Strafverfahren durchgeführt, bei denen 10- bis 14-Jährige involviert waren. In 16 Fällen gab es eine Einstellung nach gelungener Mediation, 33 wurden aus andern Gründen eingestellt, in 12 Fällen kam es zu einer Nichtanhandnahme, in 32 stellte die Staatsanwaltschaft einen Strafbefehl aus, und in 6 Fällen gab es eine Anklage.

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