Es liegt etwas in der Luft in der Bundesliga. Bayer Leverkusen wittert seine Chance auf den ersten Meistertitel und überzeugt mit spielerischer Klasse und ungeahnten Tugenden – auch dank Granit Xhaka. Die Fans dürften die Dramen nach der Jahrtausendwende aber nicht vergessen haben.
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
- Bayer Leverkusen ist in dieser Saison immer noch ungeschlagen und führt die Bundesliga an. Nach dem Ausrutscher der Bayern gegen Bremen steigen die Hoffnungen auf den allerersten Meistertitel.
- Mittendrin ist mit Granit Xhaka auch ein Schweizer. «Diese Mannschaft verfügt über alle Eigenschaften, die es für den Erfolg braucht», sagt der Nati-Captain.
- Schon in den Jahren 2000 und 2002 war der Titel für Leverkusen zum Greifen nah. Im Saisonendspurt begannen die Nerven dann aber zu flattern – und Bayer erhielt den Spitznamen «Vizekusen».
Es war der 20. Mai 2000, letzter Spieltag in der Bundesliga. Bayer 04 Leverkusen hatte drei Punkte Vorsprung auf Bayern München und spielte in Unterhaching. Ein Unentschieden hätte für den allerersten Meistertitel in der bald 100-jährigen Klub-Geschichte gereicht. Doch Leverkusen verlor, auch wegen eines Eigentors von Michael Ballack, 0:2. Bayern gewann gegen Bremen und wurde dank des besseren Torverhältnisses doch noch Meister. Und Leverkusen erhielt von Fussball-Deutschland den Übernamen «Vizekusen».
Noch dramatischer wurde es zwei Jahre später. Da hatte Leverkusen vor dem 32. Spieltag fünf Punkte Vorsprung auf Dortmund, verspielte diesen aber durch zwei Niederlagen gegen Bremen und Nürnberg und ging wieder leer aus. Immerhin stand Bayer noch im DFB-Pokal-Final und sogar im Endspiel der Champions League – aber auch diese Spiele gegen Schalke (2:4) und Real Madrid (1:2) gingen verloren. Vizekusen machte seinem Namen alle Ehre.
Einen Titel hat der Verein in diesem Jahrhundert noch nicht gewonnen. Die grössten Erfolge in der mittlerweile 119-jährigen Klubgeschichte liegen 30 Jahre und mehr zurück. Nur drei Pokale stehen im Trophäenschrank: 1993 gewann man den Pokal, fünf Jahre davor den UEFA Cup. Und 1979 wurde Leverkusen beim Aufstieg Zweitliga-Meister.
Sieben Punkte Vorsprung auf die Bayern
Die chronische Erfolglosigkeit wird selbstverständlich immer dann wieder zum Thema, wenn Leverkusen mal wieder die Chance auf einen Titel hat. So wie in diesem Jahr. Das Team von Xabi Alonso ist in dieser Saison noch in allen Wettbewerben ungeschlagen.
Die Serie in der Bundesliga beläuft sich bereits auf 18 Spiele. Sieben Punkte beträgt der Vorsprung in der Tabelle auf die schwächelnde Übermacht Bayern München, die sich am Sonntag eine Heimniederlage gegen Werder Bremen leistete, die jedoch noch ein Nachtragsspiel gegen Union Berlin in der Hinterhand hat.
Nach berauschendem Spektakel-Fussball überzeugte Leverkusen zuletzt auch mit absoluter Winner-Mentalität. Zum Jahresauftakt traf Exequiel Palacios in Augsburg nach harzigen 90 Minuten in der vierten Minute der Nachspielzeit zum 1:0, am Samstag gewann die Mannschaft in Leipzig nach zweimaligem Rückstand dank des Siegtreffers in der 91. Minute. «Wir haben einmal mehr gezeigt: Diese Mannschaft lebt, diese Mannschaft hat Charakter und zeigt Moral», sagte der Wortführer Granit Xhaka nach der Partie.
Leverkusen gewinnt in dieser Saison also nicht nur mit spielerischer Souplesse, sondern auch dank immensem Siegeswillen, der absoluten Gier und dem unerschütterlichen Glauben auch an schlechteren Tagen. Mit Tugenden einer Meistermannschaft – Tugenden, die Leverkusen in seiner 100-jährigen Historie meist hatte vermissen lassen. Tugenden, die der Magier Xabi Alonso dem Team bei seiner ersten Trainerstation auf Anhieb eingeimpft hat.
Ein Trainer, der zu Höherem berufen ist
Der offensichtlich zu Höherem berufene Xabi Alonso ist für den Klub ein absoluter Glücksfall. «Er gibt uns brutal viel. Jeder hier kann extrem viel von ihm profitieren», sagte Xhaka geradezu ehrfürchtig. Der 42-jährige Spanier, als Spieler unter anderem Mittelfeld-Stratege beim FC Liverpool, Real Madrid und Bayern München, übernahm den Posten im Oktober 2022 vom glücklosen Schweizer Gerardo Seoane. Alonso stabilisierte die Mannschaft auf Anhieb, seither geht es mit Leverkusen steil aufwärts in ungeahnte Höhen.
«Die Tore unserer Aussenläufer, der Treffer des für den verletzten Jeremie Frimpong ins Spiel gekommenen Nathan Tella – das ist alles kein Zufall. Wir schauen das unter der Woche alles im Detail an. Ob das ein Passspiel oder ein Positionsspiel ist, in der Box oder sonst wo, ohne Ball, mit Ball: Wir trainieren das tagtäglich», führte Xhaka aus.
In dieser Saison ist Leverkusens Entschlossenheit besonders greifbar. Dabei scheint die Mannschaft im Sommer mit den genau richtigen Ingredienzen für den Erfolg angereichert worden zu sein: Auf den Aussenbahnen wirbelt nicht mehr nur der junge Niederländer Frimpong auf der rechten Seite, sondern jetzt auch der ablösefrei verpflichtete Spanier Alejandro Grimaldo, bei dem man sich Spiel für Spiel fragt, wie so ein vorzüglicher Spieler unter dem Radar der grossen Klubs geflogen sein kann, auf der anderen Seite. Im Sturm sorgte der nun allerdings verletzte Victor Boniface, Neuzugang aus Belgien von Union Saint-Gilloise, auf Anhieb für Furore.
Granit Xhaka wie einst Xabi Alonso
Im Mittelfeld zieht seit dieser Saison der Schweizer Nationalmannschafts-Captain Granit Xhaka die Fäden wie einst sein Trainer bei den Weltklubs. Wurde Xhakas Wechsel vom grossen Arsenal in London zur grauen Werkself aus Nordrhein-Westfalen anfangs verschiedentlich belächelt, wird Xhaka inzwischen für sein gutes Näschen und seine bestechenden Qualitäten als Führungsspieler und Aggressivleader von allen Seiten gerühmt.
Im Sog des Aufschwungs ist Deutschlands grösstes Talent Florian Wirtz zur Weltklasse gereift und ist der Innenverteidiger Jonathan Tah nach Jahren der Stagnation plötzlich der Abwehrchef, als den man ihn eigentlich schon lange gesehen hat.
Nun bleibt die Frage, ob Leverkusen die gewichtigen Absenzen in der Defensive durch die Afrika-Cup-Teilnehmer Edmond Tapsoba und Odilon Kossounou und die Ausfälle von Boniface und Palacios noch einige Wochen abzufedern vermag und es der Klub dieses Mal bis zum 34. Spieltag durchziehen wird.
Granit Xhaka ist jedenfalls überzeugt: «Diese Mannschaft verfügt über alle Eigenschaften, die es für den Erfolg braucht. Sie hat nicht nur spielerische Klasse, sondern auch die richtige Moral.»