Christoph Biermann hat einen Bestseller über den 1. FC Union Berlin geschrieben. Im Gespräch mit blue Sport erklärt der deutsche Publizist den nachhaltigen Erfolg des Vereins unter dem Schweizer Trainer Urs Fischer, den Biermann ein Jahr lang begleitet hat.
Union Berlin hat am Samstag das Spitzenspiel gegen Bayern München mit 0:3 verloren. Es war die erste Niederlage überhaupt im Jahr 2023. Weil Union schlechter als sonst gespielt hat?
Christoph Biermann: Ja, aber Union war drei Tage nach dem spektakulären Weiterkommen in der Europa League gegen Ajax Amsterdam auch deutlich die Müdigkeit anzusehen. Weil Bayern zugleich sehr stark gespielt hat, waren die Unterschiede sehr deutlich.
Aber immer noch Platz drei in der Bundesliga, nur drei Punkte hinter dem Tabellenführer, und eben das 3:1 gegen Ajax. Dazu ein paar Zahlen: Ajax hatte 73 Prozent Ballbesitz, 87 Prozent von fast 700 Pässen kamen an. Union hatte viel weniger Pässe und nur 60 Prozent davon kamen an. Haben hier Wille und Organisation gegen Spielkultur gespielt?
Kann man so sagen. Allerdings ist es auch eine Leistung, den gegnerischen Ballbesitz auszuhalten. Es bedeutet, dass du ständig dazu gezwungen bist, dem Gegner hinterherzulaufen und dich im Ballbesitz nicht ausruhen kannst. Es setzt eine grosse Opferbereitschaft voraus, so Fussball zu spielen. Die Mannschaft hat diese unter Urs Fischer schon oft gezeigt, aber gegen Ajax sicherlich noch mal auf besonders spektakuläre Art und Weise.
Als Zuschauer sehe ich das ein bisschen zwiespältig. Einerseits erkenne ich diese Opferbereitschaft an, andererseits blutet mir das Herz, wenn ich sehe, dass schöner Offensivfussball à la Ajax nicht bestehen kann.
Es gibt drei Sichtweisen auf Union. Den Fans ist es vermutlich egal, wie ihre Mannschaft zum Erfolg kommt. Zumal die Berliner immer noch mit relativ bescheidenen wirtschaftlichen Ressourcen auskommen müssen. Die zweite Sichtweise ist, dass man anerkennen muss, wie gut ihr Spiel organisiert ist. Da sind nicht nur Willen und Bereitschaft erkennbar, sondern immer auch ein taktischer Plan.
Und die dritte Sichtweise?
Das Geschmacksurteil. Die meisten Leute sehen zweifellos lieber eine Mannschaft, die auch ein bisschen komplexere Kombinationen spielen kann. Da hapert's bei Union, auch wenn das Niveau nach und nach steigt. Urs Fischer sagt ja immer wieder, dass er besonders viel daran arbeitet, dass Union längere Phasen Ballbesitz hat.
Über Christoph Biermann
Wenn man fragt, warum Union so erfolgreich spielt, kriegt man oft die Antwort: Weil sie das Umschaltspiel perfektioniert haben. Teilen Sie diesen Eindruck?
Ja, man sieht, dass sich die Spieler sofort nach vorne orientieren, wenn der Ball erobert worden ist. Es gibt keine Verzögerung, jeder weiss, wohin er laufen muss, das ist quasi automatisiert und eines der Stilmittel von Union, die für den Erfolg mitverantwortlich sind.
Ein Zielspieler in der «Box» ist Jordan Siebatcheu, der im letzten Sommer von den Young Boys gekommen ist, wenn er auf dem Feld ist. Aber er spielt nie durch. Hat das damit zu tun, dass das Niveau der Bundesliga eben doch signifikant höher ist als das der Super League?
Im Moment liegt es vor allem daran, dass sein Stürmerkollege Kevin Behrens in der Form seines Lebens ist. Jordan Siebatcheu ist ja für Taiwo Awoniyi gekommen, der zu Nottingham Forest gewechselt hat. Es war allen klar, dass Siebatcheu ein anderer Spieler ist, nicht so bullig. Aber seine Qualitäten hat er schon gezeigt.
Kevin Behrens kam ablösefrei aus der zweiten Liga von Sandhausen. Union ist ein Spitzenverein der Bundesliga ohne bekannte Namen, ohne die grossen Stars. Andere Vereine mit nicht so hohem Budget versuchen das auch, vergebens. Was macht Union besser?
Sportchef Oliver Ruhnert hat schon ein Händchen dafür, eine Mannschaft zusammenzustellen – die sich zudem ständig verändert. Was ich bei ihm so aussergewöhnlich finde ist, wie er diesen grossen Umschlag bei Union kontinuierlich in Gang hält, wo so viele Spieler kommen und gehen.
Und Union steht im Ruf, dass sich neue Spieler schnell akklimatisieren. Urs Fischer hat das jetzt auch von seinen Wintereinkäufen gesagt, was bestimmt ein weiterer Grund für den Erfolg von Union ist. Ist das sein Verdienst?
Was das Sportliche betrifft, zweifellos. Er gibt jedem Spieler einen Rahmen, in dem er agieren kann. Aber fürs Atmosphärische ist elementar Mannschaftscaptain Christopher Trimmel verantwortlich ...
... der auch schon 36-jährige österreichische Verteidiger ...
… der auch neben dem Platz wahnsinnig darauf achtet, dass niemand verloren geht. Fischer gibt ihm und der Mannschaft viele Freiheiten, die Dinge intern zu klären. Es gibt einen Mannschaftsrat, bei dessen Besetzung Trimmel darauf achtet, dass alle Gruppen von Spielern vertreten sind. Er hat eine grosse soziale Kompetenz, bekommt mit, wenn etwa ein junger Spieler das Gefühl hat, dass er keinen Anschluss findet. Oder wenn ein älterer Reservist frustriert ist. Fussballmannschaften produzieren ja andauernd solche Probleme.
Dass ein Captain auch ein Erfolgsfaktor sein kann, vergisst man leicht ...
Fairerweise muss man aber sagen, dass die neuen Spieler in eine Mannschaft gekommen sind, die gerade fliegt. Da ist es natürlich leichter, sich zu integrieren.
Im Winter kam unter anderem Aïssa Laïdouni, der mich nicht nur optisch an Yassine Chikhaoui erinnert, der mal beim FC Zürich gespielt hat. Super Techniker, gute Übersicht, ein Spielmacher, auch wenn er das im System von Union nicht so entfalten kann. Könnte er sich zum klassischen Unterschiedsspieler entwickeln? So wie Max Kruse, als er bei Union war?
Das kann er vielleicht einmal werden, aber im Moment gibt es vor allem einen Spieler, der durch eine Einzelaktion das Spiel entscheiden kann. Das ist der Stürmer Sheraldo Becker, er ist der Unterschiedsspieler.
Und doch wurde er gegen Bayern ausgewechselt ...
Ihm sah man die Müdigkeit aus dem Ajax-Spiel besonders an, da war nicht mehr viel im Akku.
Gekommen ist unter anderem von Celtic Glasgow der Kroate Josip Juranovic. Wie erreicht man eigentlich einen Spieler wie Juranovic, der kein Deutsch kann?
Als ich in der ersten Bundesligasaison von Union die Halbzeit-Analysen gehört habe, konnten noch fast alle Spieler deutsch. Ich könnte mir vorstellen, dass die Ansprachen heute zweisprachig sind. Fischer spricht ja Englisch, Französisch und Italienisch.
Dennoch ist Fischer nicht gerade als grosser Redner bekannt. Aber es gibt nun ein Phrasenschwein bei Union. Jedes Mal, wenn Fischer eine Phrase von sich gibt, muss er zwei Euro in den Schlitz werfen. Er geht damit selbstironisch um. Die aktuelle Erfolgswelle quittierte er mit «surreal». Ist das eine Phrase?
Nein, die Wahrnehmung stimmt doch, dass alles mit einer gewissen Unwirklichkeit verbunden ist. Nicht nur der aktuelle Erfolg, sondern eigentlich die Geschichte der letzten fast fünf Jahre, seitdem Fischer übernommen hat. Um nochmal daran zu erinnern: Bei einem Klub, der zuvor nie in der Bundesliga war und auch zu DDR-Zeiten zu den Kleinen gehörte. Die Mannschaft übererfüllt seither regelmässig die Vorgaben.
Fischer flippt nicht aus, bewahrt die Ruhe, fordert das auch von der Mannschaft. Ruhe scheint mir geradezu Schlüsselbegriff für die Union zu sein. Trifft ja überhaupt auf Profivereine zu. In Berlin: Hertha: Unruhe – kein Erfolg, Union: Ruhe – Erfolg. In der Schweiz ist es mit YB und Basel ähnlich.
Ich finde, Ruhe ist nicht der zentrale Begriff für Union.
Sondern?
Klarheit. Jeder dieser Spieler geht in jedes Spiel mit einer klaren Vorgabe, die für ihn nachvollziehbar, verständlich und möglich ist. Das heisst, diese Spieler haben in jeder Spielsituation quasi ein Gerüst, auf das sie zurückgreifen können. Das ist wahnsinnig hilfreich und eine grosse Leistung von Fischer, dass es so stabil ist.
Und wie ist es um die Klarheit im Verein bestellt?
Genauso, die handelnden Personen kennen ihre Rollen.
Unruhe brachte der Wirbel um eine mögliche Verpflichtung von Isco. Warum wollte man einen abgehalfterten Superstar, der bei Real eine grosse Nummer war und bei Sevilla seine alten Tage geniesst?
Das folgte durchaus einer Logik, die wir vorher schon gesehen haben. Beim Aufstieg etwa wurden mit Neven Subotic und Christian Gentner zwei Spieler verpflichtet, die über den Zenit ihrer Karriere hinaus waren.
Christian Gentner hat dann bald darauf beim FC Luzern seine Laufbahn beendet.
Aber es waren zwei Spieler, die mit ihrer Erfahrung und als Personen auf unterschiedliche Art und Weise der Mannschaft sehr viel weitergeholfen haben. Das Gleiche gilt für Max Kruse, dieses etwas schludrige Genie, der Union in den anderthalb Jahren, in denen er da war, extrem weitergebracht hat. Aber bei Isco ist der Verein klar geblieben. Sie waren bestimmt bereit, viel Geld auszugeben, aber eben nicht, sich auf Mätzchen von Beratern einzulassen.
Man sieht daran aber schon, dass Union expandiert. Es geht stufenweise hoch. Bei einem Marktwert von 117 Millionen Euro der Mannschaft – die von Bayern hat fast 1 Milliarde – ist sicher noch Luft nach oben. Glauben Sie, dass Union am Erfolg irgendeinmal zugrunde gehen könnte, oder machen sie das vernünftig?
Ich glaube, es ist richtig, dass sie auf Wachstumskurs sind. Schwierig wird es allerdings, wenn Urs Fischer geht.
Ist das absehbar?
Jetzt nicht, aber der Moment wird kommen, wo er sagt: ‹Jetzt ist mal gut, jetzt geht’s nach Hause›. Er ist letzte Woche 58 geworden. Vielleicht mit 60?
Sie kennen Urs Fischer ja sehr gut. Ich bin mir nicht sicher, ob die Fans von Union wissen, wie sehr er an der Schweiz und an Zürich auch hängt. Fremdelt er nicht sogar ein wenig mit Berlin?
Fremdeln würde ich nicht sagen, er geht nur ganz in der Arbeit auf und interessiert sich für Berlin weniger. Arbeit ist Urs Fischer sehr wichtig und er ist sehr zufrieden, dass er bei Union einen Arbeitsplatz bekommen hat, wo man ihn so sein lässt, wie er ist, ganz einfach.
Hat er sich denn überhaupt nicht verändert in den fünf Jahre bei Union?
Ich finde schon, dass er immer noch der Gleiche ist, aber seine Rolle hat sich natürlich enorm verändert. Man darf nicht vergessen, dass Arbeitsverhältnisse im Fussball normalerweise sehr kurzlebig sind. Ich erinnere mich noch an flapsige Bemerkungen von ihm, nach dem Motto, ‹irgendwann verlierst du drei Spiele und dann wirst du halt entlassen›. Diese Sicht ist inzwischen weg, denn es gibt ein grosses Vertrauen zwischen Trainer, Präsident und Sportdirektor.
Union ist noch in allen drei Wettbewerben drin. Im Pokal-Viertelfinal, im Achtelfinal der Europa League und im Titelrennen der Bundesliga. Muss man da nicht intern Prioritäten setzen?
Aber das hiesse ja, dass man bei Spielen entscheidet, dass sie so halb abgeschenkt werden. Nein, so etwas gibt es nicht. Nicht bei Urs Fischer.
Union gilt ja als der «andere Verein». Was ist davon eigentlich übriggeblieben?
Eine ganze Menge.
Sie haben weniger Werbung, oder? Apotheken-Werbung wie im Olympiastadion gibt es nicht.
Zum Beispiel. Ja, das ganze Spielerlebnis im Stadion An der Alten Försterei ist ein bisschen anders gestrickt. Am wichtigsten scheint mir zu sein, dass sie sich wenig darum scheren, was andere sagen. Die machen ihr Ding. Vielleicht liegt es auch daran, dass Union der einzige Ostverein in der Bundesliga ist. Damit meine ich nicht geografisch im Osten gelegen, das ist RB Leipzig auch, sondern ein grosser Teil des Publikums und viele Entscheider im Klub eine DDR-Biographie haben.
Aber die Spieler kommen nicht mehr aus dem Osten, und sie kommen auch nicht aus der Jugend des Vereins.
Eine Mannschaft nur mit lokalen Talenten ist auf diesem Niveau nicht mehr möglich, aber bei der Nachwuchsarbeit hat Union sicherlich noch viel Luft nach oben.