Ausgefuchst und ausgeschrien – Julian Nagelsmann gewinnt das Duell mit Trainer-Star Diego Simeone und steht als jüngster Coach in einem Halbfinale der Champions League. Hut ab.
Wussten Sie, dass RB Leipzig 1’400 Werbeplakate in Lissabon aufhängen liess, um die lokalen Fussballfans auf ihre Seite zu ziehen? «Eure Farben sind noch im Spiel», wirbt der Dosenklub in der portugiesischen Hauptstadt und spricht damit auf die Klubfarben von Benfica an, die wie beim Bundesligisten Rot und Weiss sind. Dass auch Atlético in diesen Farben spielt, daran dachte in der Leipziger Marketingabteilung offenbar keiner. Kann ihnen aber auch egal sein, denn nach dem überraschenden 2:1-Sieg der «Roten Bullen» im Champions-League-Viertelfinal sind die Madrilenen sowieso Geschichte.
Zu verdanken haben die talentierten Leipziger den Sieg dem genialsten ihrer Sprösslinge. Und obwohl Abwehrchef Dayot Upamecano abermals eine hervorragende Leistung zeigt, ist damit nicht der 21-jährige Franzose, sondern sein nur zwölf Jahre älterer Mentor an der Seitenlinie gemeint: Julian Nagelsmann. Nicht nur die Journalisten im Estádio José Alvalade sind beeindruckt, auch Teleclub-Experte Marco Streller in Volketswil sprüht vor Begeisterung.
Vor allem die Flexibilität des Deutschen fasziniert den Ex-Basler: «Manchmal spielen sie mit drei (Spielern) hinten, manchmal mit vier. Das ist typisch Nagelsmann. Er hat kein festes System, da ist sehr viel Bewegung drin. Durch das sind sie unberechenbar.»
Besonders auffällig sind die vielen Anspielstationen im Offensivspiel. Vor dem 1:0 durch Dani Olmo stehen bei der Hereingabe von Sabitzer sechs Leipziger vor dem Tor der Spanier. «Eine unglaubliche Präsenz im Strafraum», schwärmt Streller.
Der jüngste Trainer in einem Champions-League-Halbfinal
Selbst Diego Simeones berüchtigtes Abwehrbollwerk hält dem offensiven Leipziger Spielstil nicht stand. Die sonst so abgebrühten Madrilenen wackeln phasenweise gewaltig – auch weil Nagelsmann bei Ballbesitz oft auf ein 3-1-5-1 umschaltet, bei dem Konrad Laimer (eigentlich zentrales Mittelfeld) plötzlich auf dem rechten Flügel auftaucht und immer wieder für Gefahr sorgt. Es sind Tricks wie dieser, die das Spiel in die entscheidenden Bahnen lenken und schlussendlich für Leipzig entscheiden.
Der deutsche Trainer bietet seinem erfahrenen Gegenüber aber nicht nur auf dem Rasen Paroli, auch an der Seitenlinie macht ihm der stimmgewaltige Argentinier nichts vor. Das ohrenbetäubende Gebrüll des Leipzig-Trainers ist im Alvalade bis unters Dach zu hören.
Völlig zu Recht jubelt am Schluss die deutsche Mannschaft. Besonders beeindruckend: Noch nie stand ein jüngerer Trainer in einem Halbfinal der Champions League. Und übrigens: Lionel Messi und Cristiano Ronaldo sind beide älter als Julian Nagelsmann.
Auch das sind zwei Gründe für ein kleines Fest beim Bundesligisten. Dieses wird in Portugal aber mannschaftsintern bleiben. Nach dem Spiel versammeln sich in der Hauptstadt trotz Werbekampagne keine rot-weissen Menschenmengen, um den Sieg ihrer Farben zu feiern. Die Plakate der «Roten Bullen» scheinen noch nicht anzuschlagen – sollten sie aber so weiterspielen, braucht es sowieso kein zusätzliches Marketing.