Die Erwartungen sind gross an die am Freitag beginnende 17. Europameisterschaft. In Deutschland soll wieder einmal der Fussball im Mittelpunkt stehen.
Eine Reihe von grossen Turnieren haben zuletzt mehr berechtigte Fragen aufgeworfen, als dem Fussball-Fan lieb sein konnte. Die Menschenrechte in Katar oder Russland, die Nachhaltigkeit in Brasilien oder die Corona-Krise beim paneuropäischen Turnier vor drei Jahren. 2026 findet die nächste Weltmeisterschaft in den USA, Mexiko und Kanada statt: 102 Spiele – auch geografisch – ausgetragen zwischen dem Eröffnungsspiel in Mexiko City und dem Final in New Jersey.
Die Zeit der grundlegenden Fragen kommt wieder. Aber in diesem Sommer darf man sich sagen, dass die Party am richtigen Ort stattfindet und sie so sinnvoll dimensioniert worden ist, wie das eben möglich ist in einer Welt, die derzeit auch durch Kriege geprägt ist. «Fussball ist eines der wenigen Dinge, die Menschen noch zusammenbringen», sagte Aleksandar Ceferin, der Präsident des veranstaltenden Verbandes UEFA vor einigen Tagen im Interview mit der deutschen Nachrichtenagentur dpa. Das sind Worte, die nur halb aufmunternd wirken, die aber Erinnerungen an 2006 wecken, an das letzte grosse Fussball-Turnier in Deutschland, das vielleicht beste in der Geschichte von Welt- und Europameisterschaften – das Sommermärchen.
Fussball und Deutschland – das passt zusammen. Der Liebesschwur wird jedes Wochenende erneuert. Sei es in den Stadien in München, Dortmund oder Leverkusen, wo die besten Spieler des Landes zu sehen sind, oder bei den Zweitligisten in Hamburg oder Gelsenkirchen. In Dresden und Bielefeld kamen in dieser Saison gleich viele Zuschauer zu den Heimspielen, um Drittliga-Fussball zu sehen, wie in Bern, um die Young Boys zum Schweizer Meistertitel anzufeuern. Was auch mit Milliarden nicht zu kaufen ist, gibt es in Deutschland im Überfluss: Fussball-Euphorie.
Überraschen mit Mister X
Weil Deutschland Woche für Woche im Fussballfieber ist, hielten sich die Investitionen in das Turnier im Rahmen. Rund 650 Millionen Euro waren nötig, um das Land für die EM zu rüsten. So viel wurde in Katar oder Russland für einzelne Stadien ausgegeben, die nun nicht mehr benötigt werden. In Deutschland mussten in den zehn Spielstätten für die EM nur Anpassungen vorgenommen werden. In Dortmund wurden die Stehplätze entfernt, womit nun während des Turniers die grössten Arenen anderswo sind: in Berlin, wo vor 70'000 Zuschauern am 14. Juli der Final stattfindet, und in München, wo Deutschland und Schottland am Freitag das Turnier eröffnen.
Die Schweiz spielt vorerst in der Vorrunde in Köln und Frankfurt; das Basislager haben Nationalcoach Murat Yakin und seine Delegation am Montag in Stuttgart bezogen – in einem Hotel, das ausschliesslich dem Schweizerischen Fussballverband zur Verfügung steht. Dort ist ein Grossteil des Kaders schon auf das erste Spiel am Samstag gegen Ungarn fokussiert, andere wie Breel Embolo oder Denis Zakaria müssen sich von Verletzungen erholen, und Nationalteam-Direktor Pierluigi Tami erkannte durch den Ärger mit dem Rasen auf dem Trainingsfeld in Stuttgart, dass selbst beste Planung nicht Unvorhergesehenes ausschliesst.
In den nächsten Wochen soll die Schweiz nicht mehr überrascht werden, sondern selber die Überraschung sein. «Was spricht dagegen, dass wir das Überraschungsteam der EM werden?», fragte Granit Xhaka vor einigen Tagen in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Wenn er das sagt, denkt der Captain der Schweizer Nationalmannschaft, 2009 mit der U17 Weltmeister, in ganz grossen Dimensionen. Für ihn sind die Voraussetzungen da für den ultimativen Coup.
Diverse Spieler wie Xhaka, Manuel Akanji oder Yann Sommer haben eine speziell erfolgreiche Saison mit dem Klub hinter sich. Das Rückgrat ist dadurch mehr als solid. Was fehlt, ist der Mister X, wie ihn der «Blick» nannte: Ein Spieler, der die Früchte der kollektiven Arbeit erntet in Form von Toren, ein Kylian Mbappé, Harry Kane oder Cristiano Ronaldo. Weil sich bisher kein Schweizer als Goalgetter hervorgetan hat, gehört Yakins Truppe einem recht breiten Feld von Titelkandidaten der zweiten Zone an.
Das zweite Schweizer Team
Andere Teams als die Schweiz tragen die Bürde des Favoriten, in erster Linie die personell wohl am besten bestückten Frankreich und England oder auch Gastgeber Deutschland, Portugal, Spanien und mit Abstrichen Titelverteidiger Italien. Aber, was für Tami im Trainingscamp gilt, ist für den Turnierverlauf genauso wahr: Nicht immer läuft alles nach Plan. Dänemark 1992 und Griechenland 2004 sind die liebsten Beispiele jener Teams, die wie die Schweiz mit ihrer langsam in die Jahre kommenden Ausnahmegeneration um Xhaka, Xherdan Shaqiri und Ricardo Rodriguez als Aussenseiter vom Exploit träumen.
Ausserhalb der Nationalmannschaft stehen weitere Schweizer im Blickpunkt. Erstmals seit 2010 stellt die Schweiz auch ein Schiedsrichterteam. Der vor Kurzem 36 Jahre alt gewordene Sandro Schärer ist der drittjüngste der aufgebotenen EM-Referees. Mit Fedayi San ist auch ein Videoschiedsrichter aus der Schweiz Teil des sogenannten 25. EM-Teams, das in Frankfurt seine Basis hat.
Breit aufgestellt, selbstbewusst und hoffnungsvoll. Aus Schweizer Sicht spricht vieles für ein schönes Turnier im Nachbarland, das bezüglich Fussball hierzulande schon immer auch Vorbild und Traumdestination war. Die Reisen sind kurz, die Stadien schon ausverkauft und die Stars etwas besser ausgeruht als noch in Katar. Kommt noch wie 2006 das Badewetter hinzu, ist es nicht mehr weit zum Sommermärchen 2.0.