Der dritte EM-Gegner der Schweiz erlebte in den letzten Jahren Hochs und Tiefs. Die Türkei ist qualitativ gut genug für einen Coup. Aber mit ihrer Inkonstanz auch vor einem Absturz nicht gefeit.
Eigentlich könnte die Türkei mit breiter Brust an die EM fahren. Muss sich jemand fürchten vor der Schweiz und Wales, der in der Qualifikation gegen Weltmeister Frankreich ungeschlagen geblieben ist und eben in der WM-Ausscheidung die Niederlande klar geschlagen hat? Gemäss Trainer Senol Günes: Ja. Nach dem 2:1 im Test gegen Aserbaidschan sagte er letzte Woche. «Wir sind im FIFA-Ranking das am schlechtesten klassierte Team der Gruppe A. Wir sind Aussenseiter.»
Das ist natürlich Understatement. Denn auch Günes sieht, was kürzlich der Schweizer Captain Granit Xhaka über diese türkische Auswahl gesagt hat: «Die aktuelle Generation besitzt richtig viel Talent und Qualität.» Spieler wie Hakan Calhanoglu (Milan), Caglar Söyüncü (Leicester City) oder das offensive Duo Burak Yilmaz und Yusuf Yazici vom französischen Meister Lille bürgen dafür.
Günes hebt den Warnfinger trotzdem. Er hat erkannt, dass seinem Team womöglich die internationale Härte und Erfahrung abgeht. «Wir haben weiterhin zu wenige Spieler im Ausland. Brasilien hat 7000 Spieler in Europa, selbst Serbien hat rund 300. Bei uns aber sind es gerade mal 15. Wir müssen mehr Talente herausbringen.»
Nun, ein wenig geflunkert hat Günes auch hier. Immerhin hat er in seinem 26-Mann-Kader 16 Spieler stehen, die in England, Italien, Deutschland, Spanien oder in der Niederlande engagiert sind. Aber in der Tendenz ist seine Aussage nicht falsch. Viele türkische Spieler verzichten auf einen Transfer in eine grosse Liga, weil sie bei den grossen Istanbuler Klubs Galatasaray, Fenerbahce und Besiktas mehr verdienen können als bei Getafe, Sassuolo oder Freiburg. Unter dem Strich führt diese Mischung aus Jugend und internationaler Unerfahrenheit zu inkonstanten Leistungen.
Siege gegen Frankreich und die Niederlande
Entsprechend waren die letzten zwei Jahre für die Türkei eine Berg- und Talfahrt. Auf die tolle Qualifikationsphase 2019, gekrönt mit einem 2:0 und einem 1:1 gegen Frankreich, folgte im letzten Herbst in der Nations League der Abstieg in die Liga C, um dann im März mit sieben Punkten aus drei Spielen in die WM-Ausscheidung zu starten. Doch auch hier gab es Brüche. Der Favorit Niederlande wurde 4:2 geschlagen, und gegen Norwegen, den zweiten Konkurrenten um einen der ersten zwei Plätze, gab es ein 3:0. Doch den Aussenseiter Lettland vermochte man beim 3:3 nicht zu besiegen.
Zur Inkonstanz der Türken gehört auch dies: In der EM-Qualifikation war eine solide Defensive die Basis für den Coup. Nur drei Gegentore kassierten die Türken. Weniger Treffer liess kein Team zu. Nun aber in diesem Jahr scheint die Türkei plötzlich von der Offensive zu leben. Bei schon fünf Gegentoren gelangen zehn Treffer in den ersten drei Partien der WM-Ausscheidung.
Und wenn vom Sturm die Rede ist, dann geht es derzeit vor allem um Burak Yilmaz. Gegen die Niederlande, Norwegen und Lettland schoss er vier Treffer, darunter der Hattrick gegen die Niederländer. Der bald 36-jährige Routinier hat in der abgelaufenen Saison mit seiner Tor-Produktion Lille zum überraschenden Titelgewinn in der Ligue 1 geführt.
Die neue Welle
Anders als Yilmaz, der die heimische Süper Lig erst im Alter von 35 Jahren verliess (abgesehen von einem kurzen Abstecher nach China), sind die türkischen Top-Leute in der Abwehr schon seit jungen Jahren im Ausland engagiert. Der 25-jährige Caglar Söyüncü wechselte mit 20 Jahren zum SC Freiburg und läuft nun für Leicester City auf. Der 23-jährige Merih Demiral ging schon vor fünf Jahren nach Portugal und spielt mittlerweile bei Juventus Turin. Und auch der 21-jährige Ozan Kabak verliess die Türkei bereits als Teenager; das letzte halbe Jahr verbrachte er beim FC Liverpool.
Das Trio steht zusammen Stürmer Cengiz Ünder (23/Leicester City) oder Verteidiger Zeki Celik (24/Lille) für die neue türkische Welle. Spieler, die in jungen Jahren die Türkei in Richtung europäische Top-Ligen verlassen. Und so das Nationalteam nachhaltig besser und konstanter machen sollen.