Argentinien gescheitertDas Ende der Generation Messi
SDA
1.7.2018 - 11:42
Lionel Messi ist gescheitert. Diesmal wohl endgültig. Er schweigt beharrlich zum möglichen Rücktritt. Zurück bleiben Wut, Bitterkeit, Enttäuschung. Die stolzen Argentinier liegen am Boden.
Lionel Messi schweigt, der Trainer spielt auf Zeit, die Fans sind enttäuscht und verbittert. Das krachende Scheitern des Teams um den enttäuschenden Superstar Messi hat Argentiniens Fussball in den Abgrund gerissen. «Argentinien war wie eine Mannschaft aus einer anderen Epoche. Langsam, nicht überraschend, vorhersehbar», schrieb die argentinische Zeitung «Clarin». «Ein Vierteljahrhundert der Enttäuschungen», meinte «La Nacion» und schrieb: «Ohne Steuermann, ohne Plan: Die Gründe für die nächste WM-Ohrfeige.» Legende Diego Maradona bezeichnete den WM-Auftritt Argentiniens in seiner Sendung als «Chronik eines angekündigten Todes».
Wortführer und Ex-Captain Javier Mascherano erklärte noch im Stadion von Kasan mit stockender Stimme und den Tränen nahe seinen Rücktritt aus der «Albiceleste». «Es ist vorbei», sagte der 34-jährige Mittelfeldspieler: «Jetzt bin ich nur noch ein Fan der Nationalmannschaft. Ich hoffe, dass diese Jungs in Zukunft etwas erreichen können.» Mitspieler Lucas Biglia tat es Mascherano gleich. Weitere dürften folgen. Es ist vorbei.
Tritt auch Messi zurück?
Die grösste Frage ist dabei, ob auch Messi einen Schlussstrich nach der grössten seiner vier WM-Enttäuschungen zieht. Auch am Tag danach blieb der mittlerweile 31-Jährige eine Antwort vorerst schuldig. Die Mannschaft reiste nicht geschlossen als Team ab, stattdessen verliessen die Spieler in Kleingruppen das WM-Quartier in Bronnizy. Dort herrschte nach schweren Regenschauern am frühen Morgen eine fast schon gespenstische Ruhe, ehe die Sonne ein bisschen rauskam.
Heiter ist bei den Argentiniern aber nichts mehr. Auf den Tag genau zwölf Jahre nach Messis erstem WM-Aus, bei dem er im Viertelfinal gegen Deutschland mit gerade mal 18 Jahren hilf- und tatenlos das Ende im Elfmeterschiessen gegen den Gastgeber ertragen musste, war er am Samstagabend im Pulk seiner Mitspieler im Bus verschwunden. Kein Wort nach dem 3:4 im Achtelfinale gegen den starken EM-Finalisten Frankreich. Vor zwei Jahren hatte Messi nach dem verlorenen Final der Copa America noch im Stadion seinen Rücktritt erklärt, wenige Wochen später machte er den emotionalen Entscheid wieder rückgängig.
Zweimal Viertelfinal (2006 und 2010), einmal Final (2014) und einmal Achtelfinal (2018), sechs Tore in 19 Einsätzen, kein Treffer in einer K.o.-Phase. Messis WM-Bilanz ist mehr als ernüchternd. Gegen Frankreich wurde der Magier am Ball von Teenager Kylian Mbappé entzaubert, die nächste Superstar-Generation drängt. Der Franzose habe einen Akt poetischer Gerechtigkeit vollstreckt, urteilte «La Nacion».
Was geschieht mit Sampaoli?
Acht Trainer verschliss die Generation Messi, Jorge Sampaoli übernahm den Posten erst vor einem Jahr. Über einen Rücktritt wollte der 58-Jährige, dessen Vertrag bis zur WM 2022 gültig ist, direkt nach dem Spiel nicht entscheiden. Die WM-Quali für Russland schaffte Argentinien nur mit grösster Mühe und einem Messi-Dreierpack gegen Ecuador. Ein Testspiel gegen Spanien ging 1:6 verloren. Die WM-Generalprobe in Jerusalem gegen Isreal wurde kurzfristig abgesagt. Sampaoli sah sich Belästigungsvorwürfen im Vorbereitungscamp ausgesetzt, Stammkeeper Sergio Romero fiel verletzt aus.
Erstmal angekommen im WM-Land, ging die Unruhe erst richtig los: Angebliche Sampaoli-Entmachtung, Lügen-Vorwürfe von Verbandsboss Claudio Tapia an die Medien – dazu einmal mehr skurrile und besorgniserregende Auftritte von Edelfan Diego Maradona.
Und immer irgendwie mittendrin war Messi, dessen grösste Sehnsucht es war, seinem Land den dritten Titel zu schenken nach 1978 und 1986. Der verschossene Penalty beim 1:1 gegen Island, seine unwürdige Leistung gegen Kroatien – es begann verheerend. Messis Mutter hielt den Dauer-Kritikern, die dem Ausnahmefussballer fehlenden Patriotismus vorwerfen, schon entgegen: «Wir leiden sehr darunter, wenn sie sagen, dass er nicht mit der argentinischen Elf mitfühlt, dass er aus Verpflichtung mitspielt. Denn das ist nicht so.»
Messi litt in Russland, und das war spürbar. Nur selten sah man ihn lachen. «Ein Trainer, der Leo trainiert, weiss, dass alle um ihn herum ihm ein gutes Gefühl geben müssen», sagte Sampaoli während der WM einmal. Messi schien nur selten ein gutes Gefühl zu haben. Ob er selbst die Mannschaft diktierte oder nicht: Es war, als wüsste er von Beginn an, dass es eh nicht reichen würde. Und als hätte er damit die Tragweite seines persönliches Scheiterns vorhergesehen. «Das ist Messis Argentinien, nicht meins», hatte Sampaoli vor der WM gesagt. Bald könnte es ein Argentinien ohne Messi sein.