Italiens Geheimwaffe Jorginho – der Kämpfer mit dem Lausbubengesicht

sm, sda

10.7.2021 - 00:00

Jorginho wurde gegen Spanien zum Matchwinner für Italien. 
Jorginho wurde gegen Spanien zum Matchwinner für Italien. 
Bild: Getty

Dank dem verwandelten Penalty von Jorginho lebt Italien weiter seinen EM-Traum. Die Geschichte des Mittelfeldspielers mit brasilianischen Wurzeln zeigt detailliert auf, wie wenig im Fussball zwischen Sieg und Niederlage liegt.

10.7.2021 - 00:00

Es liegt ein Widerspruch in Jorginhos Erscheinung, die ausschliesslich Freude und Wärme ausstrahlt – in seinem glattgebügelten Gesicht und in diesem spitzbübischen Dreitagebart. Trauer und schwierige Tage, das teilt das Äussere des 29-jährigen italienischen Internationalen dem Beobachter mit, sind mir fremd. Dabei kennt Jorginho, geboren zum Jahresende 1991 in der brasilianischen Küstenstadt Imbituba als Jorge Luiz Frello Filho, die Schattenseiten des Lebens gut, insbesondere die eines Jungen mit dem Ziel Fussball-Profi zu werden.



Frühe Trennung von der Familie, Geldsorgen, mafiöse Vermittler und immer wieder die Prophezeiung von Kritikern, nicht gut genug zu sein – Jorginho weiss um die Hürden des Geschäfts mit dem Fussball aus eigener Erfahrung. Im Alter von 15 Jahren zog er zwecks besserer Perspektiven nach Italien und tauschte Familie, Freunde und die ihm bekannte Sprache gegen ein Leben in einem Kloster in Verona ein. 20 Euro pro Woche erhielt Jorginho in seiner Anfangszeit, um den Kontakt zur Familie in der Ferne zu halten verzichtete er zu Gunsten der Ferngespräche aufs Essen. «Ich kann mir die Tränen nicht vorstellen, die nachts in diesem dunklen und traurigen Zimmer vergossen wurden», sagte Riccardo Prisciantelli, der damalige Sportchef von Hellas Verona, einmal gegenüber der «Gazzetta dello Sport».

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Nicht weglaufen

Prisciantelli meinte es gut mit dem talentierten Teenager. Sogar vor Streitereien mit den Mönchen schreckte er nicht zurück, wenn es darum ging, seinem Schützling eine warme Mahlzeit zu bescheren. Geld habe er selber oft nicht gehabt, «wenn ich aber konnte, habe ich ihm 20 oder 50 Euro gegeben», so Prisciantelli. Auch vom Keeper des Fanionteams, wie Jorginho ein Brasilianer, erhielt der junge Fussballer Unterstützung, monetär und mental. Andere wiederum hatten weniger gute Absichten mit dem Ankömmling. Ein Berater soll den Grossteil von Jorginhos Gehalt für eigene Zwecke verwendet haben.

Jorginho startete seine Karriere bei Hellas Verona.
Jorginho startete seine Karriere bei Hellas Verona.
Bild: Getty

Der Charakter des Youngsters wird durch die Vorfälle gestählt, nur sein Äusseres bleibt weich. Während die stupende Technik des Brasilianers allen gefällt, sorgt der Körperbau immer wieder für Skepsis. Viele Kritiker hielten darum auch den Wechsel vor drei Jahren in die Premier League zu Chelsea, wo in Maurizio Sarri ein weiterer Förderer von Jorginho engagiert war, für unklug. Auch Frank Lampard, Sarris Nachfolger bei Chelsea, gehört offenbar zu den Skeptikern. Die Chelsea-Legende hatte für den Mittelfeldorganisatoren wenig Verwendung.

Nennt mich Jorginho

Doch auch der Aufstieg zum Fussballstar, der seit 2012 auch die italienische Staatsbürgerschaft besitzt und 2016 in der Squadra Azzurra debütierte, änderte an Jorginhos Mentalität nichts. Er blieb in London, weil Weglaufen seine Sache nicht ist. Nur einmal, als die dubiosen Geschäfte seines Beraters in seiner Anfangszeit in Italien aufflogen, sah Jorginho sein Wohl in einer Flucht zurück in die Heimat. Erst die Mutter konnte ihn vom Verbleib überzeugen.

Nun könnte ihn seine Hartnäckigkeit zum zehnten Spieler der Geschichte machen, der die Champions League und die Europameisterschaft im gleichen Jahr gewinnt. Für Italien ist Jorginho ohnehin ein Glücksfall, weil er das Positive aus zwei Welten vereint: das Ballstreicheln des Strandfussballers steckt in ihm, ebenso der Kampf des Kloster-Jungen. «Nennt mich jetzt nicht Giorgio. Ich bleibe lieber Jorginho», sagte der Fussballprofi bei der zeremoniellen Übertragung der Staatsbürgerschaft mit glattgebügeltem Gesicht und spitzbübischem Lächeln. Wer konnte ihm da böse sein?


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