Die verpasste WM 2018 ist vergessen. An der EM-Endrunde 2021 gehört Italien zum Favoritenkreis. Das hat viel mit Trainer Roberto Mancini zu tun.
Als der Schock vorüber war, forderte die «Gazzetta dello Sport» die Nation auf, in die Zukunft zu blicken. «INIZIO» (Anfang) titelte sie am 15. November 2017. Zwei Tage zuvor hatte Italien die Qualifikation für die WM verpasst.
Wie der (Neu-)Anfang aussehen sollte, das schrieb die «Gazzetta dello Sport» auch gleich dazu. Unter dem Titel «10 Ideen um wieder aufzustehen!» lieferte sie das Rezept. Es ging dabei um die grossen Veränderungen: Numerus Clausus für Ausländer, mehr Italiener in der Serie A, jüngere Funktionäre im Verband, Nachwuchsmannschaften in den unteren Profiligen.
Drei Jahre später muss man konstatieren. Es geschah: nichts. Noch immer ist das ausländische Personal in den Topklubs in der Überzahl. Der Verbandspräsident ist 67 Jahre alt. Nur Juventus Turin hat ein Nachwuchsteam, das bei den Männern mitspielt.
Und so fragt man sich: Ist ein Wunder geschehen, dass Italien drei Jahre nach der verpassten WM plötzlich so gut ist, dass es mit Weltmeister Frankreich, der FIFA-Nummer 1 Belgien oder den talentierten Engländern in einem Atemzug genannt wird, wenn es darum geht, die Favoriten auf den EM-Titel zu nennen?
Ein Teil der Antwort ist vielleicht ganz banal. Die Squadra hätte auch im Herbst 2017 nicht so schlecht sein müssen, wie sie damals gerade von Italienern selbst gesehen wurde. Wenn eine WM verpasst wird, weil der Ball an den Pfosten geht statt ins Tor, oder weil der Gegner mit einem abgefälschten Schuss trifft, dann muss nicht gerade die gesamte Bewegung in Trümmern liegen.
Unveränderte Achse
Auch ist die Squadra Azzurra im Kern in den letzten Jahren nicht derart durchgeschüttelt worden, wie man dies meinen mag. Acht Spieler der mutmasslichen Stammformation für die EM 2021 gehörten schon im misslungenen 2017 zur Auswahl. Die Achse Leonardo Bonucci/Giorgio Chiellini – Marco Verratti/Jorginho – Andrea Belotti oder Ciro Immobile? Unverändert! Dazu Lorenzo Insigne auf der linken Seite und Alessandro Florenzi über rechts? Wie eh und je!
Dennoch ist frappant, wie sehr sich Italiens Team seit der Amtsübernahme von Roberto Mancini gesteigert hat. Die Spiele sind für den Zuschauer keine Tortur mehr. Sie sind beste Unterhaltung. Wo es die Italiener früher bei einem 1:0 gut sein liessen, gewinnen sie heute 3:0 oder noch höher. 37 Tore schossen sie in der Qualifikation, nur Belgien traf häufiger.
Mancini hat bei seinem Amtsantritt nicht das (Azur-)Blaue vom Himmel versprochen («Es wird nicht leicht»), doch mit jedem Sieg hat er die Mannschaft mehr hinter sich gebracht. Jetzt, vor der EM, an der die Italiener zumindest in der Vorrunde Heimvorteil geniessen, folgen ihm die Spieler beinahe blind.
Die Wende in Polen
Wenn es stimmt, dass siegen hilft, weitere Siege zu realisieren, dann ist dieses Italien der Beweis dafür. Als die Mannschaft im Oktober 2018 im siebten Spiel unter Mancini in der Nations League nach Polen reiste, drohte der nächste Absturz. Der Abstieg in die Liga B. Mancini war da gerade eben fünf Partien in Serie ohne Erfolg geblieben. Doch Italien siegte in Polen dank einem Tor in der Nachspielzeit – und verlor seither nie mehr.
Mancini – zuvor bei Galatasaray Istanbul (2014), Inter Mailand (2016) und Zenit St. Petersburg (2018) mehr oder weniger kläglich gescheitert – hat sich zum König Midas gemausert. Was er in die Hände nimmt, wird scheinbar zu Gold. Er inszeniert sich dabei nicht als taktisches Genie, welches das System ändert wie die Unterwäsche und damit wie einige seiner Vorgänger (Arrigo Sacchi, Cesare Prandelli, Gian Piero Ventura) ins Verderben läuft.
Italien spielt unter dem früheren Meistertrainer von Inter Mailand und Manchester City 4-3-3, presst hoch, hat viel Ballbesitz und stürmt über die Flügel. So legte Mancinis Italien eine Serie von 26 Spielen ohne Niederlage hin. Das hatte die «Gazzetta dello Sport» nicht kommen sehen. Der Name Mancini hatte nicht zu ihren zehn Ideen gehört. Auferstanden ist Italien jetzt trotzdem.