Die Schweiz hat im EM-Achtelfinal in Bukarest gegen Weltmeister Frankreich nichts zu verlieren. Bei einer Niederlage bliebe ein Nachbeben wohl aus. Ein Sieg dagegen wäre ein Jahrhundert-Coup.
Fussball ist ein schnelllebiges Geschäft. Erst recht an einer EM-Endrunde mit ihrem getakteten Spielplan. Vor rund einer Woche standen die Schweizer am Abgrund, weil das Ausscheiden in der Vorrunde drohte. Dieses hätte grundsätzliche Fragen aufgeworfen, womöglich tiefgehende Risse entstehen lassen. Alles wäre verhandelt worden: die Zukunft von Nationaltrainer Vladimir Petkovic, die Qualität der Generation um Granit Xhaka und Xherdan Shaqiri. Der Bogen wäre gespannt worden zu den wiederkehrenden Brennpunkten Leidenschaft, Identifikation und Integration.
Jetzt aber hat die SFV-Auswahl bereits wieder nichts weniger als die Aussicht auf einen Jahrhundert-Coup. Sie tritt im EM-Achtelfinal gegen den Weltmeister Frankreich an. Es winkt nicht nur die erste Viertelfinal-Qualifikation an einer Welt- oder Europameisterschaft seit 67 Jahren, sondern gleich auch der bedeutendste Sieg seit dem 4:2 in den Achtelfinals der WM 1938 gegen Gross-Deutschland. Captain Granit Xhaka beschreibt es so: «Es wäre eine doppelte Geschichte.»
Wird es die «Goldene Generation»?
Diese Geschichte würde aus potenziellen Nestbeschmutzern innerhalb von acht Tagen die «Goldene Generation» des Schweizer Fussballs machen. Und diese Generation glaubt an den grossen Wurf. Verteidiger Manuel Akanji sagt, sie würden «den Franzosen zeigen, dass wir nicht verängstigt sind», und ergänzt: «Wenn man bei einem Turnier weit kommen will, muss man auch eine Mannschaft wie Frankreich schlagen.»
Weit kommen! Es bleibt auch vor dem Duell mit dem an sich übermächtigen Gegner das Mantra im Schweizer Team. Xherdan Shaqiri sagt deshalb forsch: «In der K.o.-Phase ist alles möglich. Portugal wurde auch als Gruppendritter Europameister.» Xhaka fasst die Gefühlslage der Mannschaft zusammen: «Wir verstecken uns nicht und dürfen uns nicht zu kleinmachen.» Den Sinn für die Realität hat das Team gleichwohl nicht verloren. «Frankreich ist der Favorit, da müssen wir ehrlich sein», sagt Xhaka. Er beziffert die Ausgangslage: «55:45 für Frankreich.»
Aber vielleicht ist die Differenz in Wirklichkeit noch viel grösser. Eine paar Eckdaten liessen auch die Schlagzeile «David gegen Goliath» basteln. Hier die Schweiz mit einem Marktwert des EM-Kaders von rund 280 Millionen Euro. Dort der Weltmeister mit einem Marktwert von 1,03 Milliarden Euro. Das ist fast viermal mehr. Von den 16 Achtelfinalisten sind nur Schweden, die Ukraine, Tschechien und Wales tiefer bewertet als die Schweiz.
Titelgewinne? 59:6!
Oder das Titel-Portfolio der beiden Mannschaften: Die erwartete Startformation der Franzosen kommt auf 59 Titel an Welt- und Europameisterschaften, in den fünf grossen europäischen Ligen oder in Champions League und Europa League. Und die Schweizer? Sie versammeln im gesamten EM-Kader ganze sechs solcher Erfolge. Xherdan Shaqiri hat sie alle geholt, mit Bayern München und dem FC Liverpool, in einer Ersatzrolle.
Es sind dies die Kennzahlen, welche die Schweiz bei fünf der grössten Wettanbietern zum klaren Aussenseiter machen. Die Quoten für einen Schweizer Sieg lagen am Sonntag zwischen 6,6 und 7,4. Die Quote für einen Sieg Frankreichs pendelte sie sich bei 1,55 ein. Oder wie es der frühere französische Internationale und Bayern-Spieler Willy Sagnol gegenüber der Zeitung «L’Equipe» sagte: «Die Schweiz ist ein unterklassiger Gegner.»
Kein harter Aufprall wie 2016 oder 2018
Solche Einschätzung können nur gut sein für die Schweiz, auch in Bezug auf die Nachbearbeitung dieser Europameisterschaft. Petkovic und seine Spieler haben nach der zähen Vorrunde nichts mehr zu verlieren. Ein Ausscheiden in den Achtelfinals gegen den Weltmeister bedürfte einer ganz anderen Einordnung als das Scheitern vor fünf Jahren an der EM in Frankreich gegen Polen oder vor drei Jahren an der WM in Russland gegen Schweden.
Damals gingen die Schweizer – zumindest in der eigenen Wahrnehmung – als Favoriten ins erste Spiel der K.o.-Phase. Der Fall war danach umso tiefer, der Aufprall umso heftiger und schmerzhafter. 2021 hat die Mannschaft das Schlimmste mit dem Sieg gegen die Türkei verhindert. Was jetzt noch kommt, ist irgendwie Zugabe. Torhüter Yann Sommer sagt dazu: «Machen wir gegen Frankreich einen guten Anfang.»
Mo 28.06. 20:15 - 23:35 ∙ SRF zwei ∙ 200 Min
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