Kommentar Keine WM für Fussballromantiker

Syl Battistuzzi

16.7.2018

Nicht jeder hatte gestern Grund zum Lachen. 
Nicht jeder hatte gestern Grund zum Lachen. 
Bild. Getty Images

Die 21. Fussball-WM ist zu Ende. Mit Frankreich bekommt die FIFA genau den Weltmeister, den der heutige Fussball verdient. 

Ivan Rakitic meinte nach dem verlorenen Endspiel melodramatisch, dass «sogar der Himmel traurig» gewesen sei. Der Aargauer im Dienste der Kroaten hatte nicht Unrecht. Bei der Siegerehrung regnete es in Strömen, als hätte Wettergott Zeus seine Schleusen geöffnet und Blitz und Donner direkt auf Moskau abgelassen. Zeus ist mächtiger als alle anderen Götter, nur das Schicksal steht über ihm. Schicksal gemäss Wikipedia heisst, dass der Ablauf von Ereignissen im Leben des Menschen, die als von göttlichen Mächten vorherbestimmt oder von Zufällen bewirkt empfunden werden, mithin also der Entscheidungsfreiheit des Menschen entzogen sind.

Leider hatte man am Sonntag das Gefühl, gewisse Menschen hätten genug Entscheidungsfreiheit gehabt, um ein gerechteres Finale zu gestalten. Die drei Hauptdarsteller des Dramas:

Der «Unparteiische»

Der bullige Nestor Pitana aus Argentinien (der in seiner Heimat vermutlich auch Lionel Messi das Fleisch vom Teller gemopst hat) fiel auf die Schwalbe von Antoine Griezmann rein und gab auch den Handselfmeter. Wurde er von meinen fitnesstreibenden Freunden zuvor noch wegen seiner imposanten Gestalt als ihr Liebling der WM gelobt, machte Pitana sich durch seine Urteile zum Henker der Kroaten.

Vielleicht war es aber bei ihm mehr Schicksal als freier Wille: Zuerst liess Pitana bei der Handsberührung von Perisic weiterspielen, dann meldete sich der VAR. Er ging in die durchsichtige Kabine und starrte lange in den Bildschirm hinein. Nachdem er sich nach einer gefühlten Ewigkeit zu einem Entscheid durchgerungen hatte, lief der Schiedsrichter nochmals zum Bildschirm, was ihn für Aussenstehende nur noch bedauernswerter erscheinen liess. Er entschied – für Fussballromantiker wie mich – leider falsch. Keiner fand klarere Worte als Roy Keane: «Fussball ist das tollste Spiel der Welt. Diese Entscheidung da widert mich an.» 

Ein Mann, ein Bildschirm, eine Fehlentscheidung.
Ein Mann, ein Bildschirm, eine Fehlentscheidung.
Bild: Keystone

Griezmann: Vom Saubermann zum heutigen Fussballprofi

Antoine Griezmann ist zusammen mit Kylian Mbappé das grösste Talent in den Reihen der Franzosen. Auch in seinem Klub Atlético Madrid, wo sonst mehr hemdsärmelige Arbeit gefragt ist, sorgt der feingliedrige Mann aus dem Burgund für die überraschenden Momente. Technik, Tempo und Arbeitsethos machen aus Griezmann einen einzigartigen Stürmer, einen richtigen Künstler. Neben dem Feld ist der Blondschopf ein sympathischer und bodenständiger Zeitgenosse. So widerstand er diesen Sommer auch den (bestimmt verlockenden) Angeboten der Konkurrenz und verlängerte den Vertrag bei den Rojiblancos bis 2021. Bei Griezmann schwang stets das Gefühl mit, dass er noch nicht so gleichgültig gegenüber dem ganzen Fairplay-Kram ist, auch wenn der 27-Jährige Strafstösse jeweils erbamungslos verwertete.

Gestern legte er im Zweikampf mit Marcelo Brozovic eine «Schutzschwalbe» hin, bei der selbst Andy Möller rot angelaufen wäre. Wahrscheinlich war Griezmann 2016 einfach desillusioniert worden. Da verlor er mit Atlético zuerst den Champions-League-Final und danach gleich noch mit den Franzosen den EM-Final gegen ein spielerisch unterlegenes Portugal. So beschloss Griezmann vermutlich , dem Erfolg nun halt alles unterzuordnen. Die Schimpftirade von Belgiens Courtois, der nach dem Halbfinal-Out von «Anti-Fussball» sprach, nahm Griezmann nur noch kaltschnäuzig zur Kenntnis: «Mir ist die Kritik gleich, ich will einfach einen zweiten Stern auf dem Trikot haben. Darum geht es.»

Diese zynische Antwort hätte man sich vielleicht bei Mbappé vorstellen können, der trotz seiner erst 19 Lenzen schon mit der Fallsucht verseucht worden scheint. Jetzt gehört Griezmann in die gleiche Kategorie wie ein Sergio Ramos. Lieber hätte ich ihn bei Baggio, Socrates und Cruyff gesehen. Vielleicht allesamt WM-Verlierer, aber unsterbliche Helden der Fussballfans. Griezmann hat sich gestern für die andere Seite entschieden.

Griezmann hebt ab in 3,2,1 ...
Griezmann hebt ab in 3,2,1 ...
Bild: Keystone

Trainer Deschamps: Erfolgreich, aber fantasielos

Wer Didier Deschamps früher auf dem Fussballfeld sah, ist nicht überrascht über die defensive Spielweise der Franzosen. Fussball heisst für den bärbeissigen Basken primär Arbeit. Eine solche Philospohie bei kleineren Teams zu sehen, ist nachvollziehbar. Doch Deschamps hatte vor der WM die Qual der Wahl: So viele talentierte Topspieler auf allen Positionen hatte wohl keine andere Nation. Für seinen Schlachtplan missbrauchte der «General» das hochbegabte Spielermaterial, verordnete spielerische Magerkost statt Gourmet-Gerichte. Wenn sein vorderster Stürmer Olivier Giroud im ganzen Turnier kein Schuss aufs Tor zustande kriegt, spricht das Bände.

Sein Credo war immer:

«Ich habe den Fussball nie des Spielens wegen gespielt, sondern immer des Gewinnens wegen»

 
Didier Deschamps
Der Erfolg gibt ihm recht: Didier Deschamps.
Der Erfolg gibt ihm recht: Didier Deschamps.
Bild: Keystone

Für Fussballromantiker gehört die Weltmeisterschaft-Mannschaft 2018 in die gleiche Kategorie wie die Europameister Griechenland 2004 und Portugal 2016. Schade eigentlich, sie hätten es bestimmt auch so in den Füssen gehabt. Aber der Wille von Deschamps setzte sich durch. Oder es war eben doch Schicksal? Wer mit einem Torschuss 2:1 in Führung liegt, muss von den Göttern begünstigt sein.

Fazit zur WM

Die Einführung des VAR (Video Assistant Referee) war das bestimmende Thema im Vorfeld der WM. Insgesamt hat er viele Entscheide korrigiert. Im entscheidenden Endspiel aber sorgte der VAR aber vor allem für Ärger: Bei Griezmanns Schwalbe durfte der VAR gar nicht zum Einsatz kommen, beim Penalty förderte er mit seinem Eingreifen wohl unbewusst die Entscheidung. 

Russland hat als WM-Gastgeber ein schönes Bild abgeben können. Doch es war ein Potemkinsches Dorf. Hinter der schönen Fassade denken viele Menschen nur an ihre eigenen Pfründe. Erst das Fressen, dann die Moral. Deshalb passt Frankreich als Weltmeister halt doch wie die Faust aufs Auge. Die Kroaten sind die Weltmeister der Herzen geworden. Sie werden sich nichts davon kaufen können. Ausser den Respekt der Fussballromantiker.

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