Schweizer GruppengegnerLöw: «So naiv wie vor vier Jahren spielt Brasilien nicht mehr»
SDA
30.5.2018 - 06:30
Brasilien hat sich nicht neu erfunden, ist aber dank Coach Tite zur Besinnung gekommen. Mit dem markant besser strukturierten Rekord-Champion ist in Russland bis zum letzten WM-Tag zu rechnen.
Den gravierenden Fehler, ausnahmslos alles auf Neymar jr. auszurichten, begehen die Brasilianer kein zweites Mal mehr. Die Rolle des 222-Millionen-Mannes wird auf irdische Ausmasse beschränkt. Er soll seine immense Qualität in einem vernünftigen Verhältnis einbringen, als Solo-Unterhalter ist der Rekord-Transfer des französischen Meisters Paris Saint-Germain nicht vorgesehen – zumal er wegen einer Fuss-Operation seit Anfang März keine Partie mehr bestritten hat und sich vorerst nur schrittweise an sein Toplevel herantastet.
Im 23er-Kader steckt derart viel Klasse und Persönlichkeit, dass die Mannschaft selbst ohne einen Neymar in bester Verfassung jeden Kontrahenten kontrollieren kann. Schlüsselspieler von vier Meistern der europäischen Top-5-Ligen bilden das Gerüst eines Ensembles, das seit der Einsetzung von Coach Tite in 24 Monaten 18 von 19 Spielen beherrschte und dabei 42:5 Tore markierte.
Die Konsequenzen des 1:7
Um die aktuell vielversprechende Konstellation in der Seleção zu begreifen, ist der Rückblick auf zwei epochale Tiefpunkte der brasilianischen Verbandsgeschichte nötig. Im heissen WM-Sommer 2014 liessen sich die Südamerikaner in Belo Horizonte demütigen wie nie zuvor. Das niederschmetternde 1:7 gegen den nachmaligen Titelträger Deutschland war der Auslöser einer flächendeckenden Depression.
Im Zuge ihrer Fassungslosigkeit engagierten die Verantwortlichen mit Carlos Dunga einen Mann aus der Vergangenheit, statt die Schockstarre auf innovative Weise zu bewältigen. Der Retro-Versuch endete mit dem nächsten Debakel. Im Juni vor zwei Jahren schied der Rekordweltmeister wegen einer peinlichen 0:1-Niederlage gegen Peru bereits nach der Gruppenphase der Copa America aus.
Das früheste Out bei der Copa seit 1987 löste auf höchster Ebene einen Prozess der Neuorientierung aus. Adenor Leonardo Bachi übernahm das Kommando. Der unbestrittene Insider mit dem Künstlernamen Tite kennt die vielschichtige Fussball-Nation wie kaum ein Zweiter. Während 26 Jahren betreute er elf brasilianische Klubteams.
Mit Konzept und Ideen
Er stammt aus dem Süden, aus einer Region mit europäischen Einwanderern. Der Einfluss der Vorfahren ist spürbar. Seine Philosophie wird von einem auffällig ausgeprägten Ordnungssinn bestimmt. Auf eine klare Struktur und gut funktionierende Organisation legt der 56-Jährige viel Wert. «Sie pflegen einen europäischen Stil», ist dem Schweizer Selektionär Vladimir Petkovic aufgefallen.
Tite steht für Konzepte und Ideen. Dass seine Assistenten-Wahl auf Sylvinho fiel, ist kein Zufall; auch der zweifache Champions-League-Sieger und Ex-Barça-Professional kümmerte sich während seiner Aktivzeit vornehmlich um das Geschehen in der eigenen Platzhälfte. Der Coaching-Stab geniesst intern und extern ein hohes Ansehen. «Der neue Trainer hat viel verändert. Sie haben Kraft geschöpft. So naiv wie vor vier Jahren spielt Brasilien nicht mehr», sagt der deutsche Weltmeister-Trainer Jogi Löw.
Dem Taktiker an der Seitenlinie vertraut die Öffentlichkeit, und die Superstars in den eigenen Reihen schätzen seinen modernen Führungsstil. Sie respektieren seine Vorgaben und können mit den von ihm gewährten Freiräumen umgehen. Und sie spürten, dass sein Weg zielführend sein könnte: Die Rekordserie in der WM-Ausscheidung mit neun Siegen ist nur ein Argument.
Wie vernetzt und fortschrittlich der grosse Hoffnungsträger an der Seitenlinie denkt, verdeutlicht eine Episode aus einem Trainingscamp. Tite versorgte die ganze Equipe mit einer Sport-Lektüre. Das Buch des ehemaligen US-Basketball-Nationaltrainers Mike Krzyzewski «Führen mit Herz» sollte die Akteure dazu anregen, im mentalen Bereich Grenzen zu verlegen und sich eingehend mit den Grundregeln eines erfolgreichen Kollektivs zu beschäftigen.