Spanien peilt an der paneuropäischen EM als Kopf der Gruppe E den Titel an. Nationalcoach Luis Enrique geht dabei ohne Rücksicht seinen eigenen Weg.
Spaniens Trainer Luis Enrique ist ein Mann seines Wortes. Er nehme bei Personalentscheiden keine Rücksicht auf Befindlichkeiten, hatte der 51-Jährige vor Wochen verkündet. Und im Hinblick auf das spanische EM-Kader sagte der Nationalcoach: «Es wird Überraschungen geben.» Wie ernst es Enrique mit diesen Aussagen war, erfuhr die Öffentlichkeit drei Wochen vor dem EM-Auftakt des dreifachen Europameisters: Der langjährige Nationalmannschafts-Captain und Abwehrchef Sergio Ramos fand im Aufgebot von Enrique keinen Platz. Zu viel verletzt, zu wenig auf dem Platz, begründete Enrique den «harten Entscheid, der mir weh tat».
Ramos' Ausmusterung ist eine beispiellose Zäsur im europäischen Fussball, Enrique verzichtet schliesslich nicht nur auf seinen 35-jährigen Captain, sondern auf einen Spieler, der die Erfahrung von zwei EM-Titeln und einem Triumph an einer WM mitbringt. Und dies, obschon der Coach nur 24 statt der von der UEFA erlaubten 26 Kaderplätze für die EM besetzte. Wer will, kann dahinter auch eine Spitze gegen Real Madrid sehen.
Kein Spieler vom Zweiten der spanischen Meisterschaft wurde von Enrique berücksichtigt. Gerade in der spanischen Hauptstadt ist die Lesart von Enriques EM-Nomination darum, dass der Trainer seine persönliche Abneigung gegen Real über das Wohl des Nationalteams stellt. «Spanien sollte über allem stehen», kommentierte ein Journalist der «AS».
Er habe sein Kader nicht zusammengestellt, um gewisse Leute glücklich zu machen, entgegnete Enrique den Kritikern. «Ich weiss aber, wo ich bin und akzeptiere die medialen Nebengeräusche.» Es ist nicht das erste Mal, dass der ehemalige Profi von Real Madrid und Barcelona von den Medien in der Heimat angegriffen wird. An ihm gekratzt hat der Zwist bisher nicht. Seit der Rückkehr als Nationaltrainer nach dem tragischen Krebstod seiner Tochter geht Enrique seinen Weg noch kompromissloser, es ist ein Weg der Verjüngung. Im Vergleich zum Achtelfinal-Aus an der WM 2018 in Russland tritt Spanien zu seinen Gruppenspielen in Sevilla mit einer im Durchschnitt zwei Jahre jüngeren Equipe an.
Duell der Superstürmer entfällt
Enrique hat in den letzten Monaten einige mögliche Aufstellungen getestet, selbst bei der Formation legte er sich nicht fest, wechselte zwischen einem 4-3-3 und einem 4-1-4-1 hin und her. In Spanien wird darum befürchtet, dass die Abläufe bei der «Furia Roja» nicht sitzen könnten. «Keine Zweifel, wir haben die Chance, alles zu erreichen», sagt Enrique. Der Einstieg ins Turnier gewährt dem Weltmeister von 2010 eine gewisse Schonfrist. Weder Schweden noch Polen und schon gar nicht die Slowakei sollten im Kampf um den Gruppensieg Gradmesser für Spanien werden.
Im Kampf um den 2. Platz in der Gruppe E hatten neutrale Fans auf ein Duell der Superstürmer gehofft. Es entfällt. Während Weltfussball Robert Lewandowski in unbestrittener Topform mit Polen nach Sevilla reist, musste Schwedens Rückkehrer Zlatan Ibrahimovic wegen einer Knieverletzung Forfait erklären. Die Schweden sind sich die Abwesenheit des selbsternannten «Fussballgottes» jedoch gewohnt, der bald 40-jährige Goalgetter stand den «Tre Kronor» in den letzten fünf Jahren auf eigenen Wunsch nämlich auch nicht zur Verfügung.
Nun muss es in Sevilla in Grobzügen das Team richten, das vor drei Jahren an der WM in Russland durch einen 1:0-Sieg gegen die Schweiz die Viertelfinals erreicht hatte.
Polen würde ein Ausfall seines Topangreifers und Weltfussballers Lewandowski mehr schmerzen als die Schweden. Dennoch hängt im Kampf um Platz 2 in der Gruppe für Polen mehr von den Leistungen der weiteren Offensivkräfte ab, als von Lewandowski selber. Weil der Captain bei allen Gegnern unter spezieller Beobachtung stehen wird, werden sich für Piotr Zielinski Räume auftun. Doch weiss der frühere Cheftrainer des FC Basel und aktuelle Polen-Nationalcoach Paulo Sousa oft nicht, welches Gesicht dieser präsentiert. An einem guten Tag von Zielinski und Co. wird Polen selbst Luis Enrique mit Spanien das Leben schwer machen können, an einem schlechten aber selbst gegen die in die Jahre gekommene slowakische Equipe unvorteilhaft aussehen.
Spanien in Zahlen
Einwohner: 46,9 Mio.
Hauptstadt: Madrid
Gründung des Verbandes «Real Federación Española de Fútbol»: 1913
FIFA-Ranking: 6.
Bisherige Teilnahmen an EM-Endrunden (10): 1964, 1980, 1984, 1988, 1996, 2000, 2004, 2008, 2012, 2016
Bestes EM-Resultat: Europameister (1964, 2008, 2012)
Qualifikation: Sieger in Gruppe F (10 Spiele/26 Punkte) vor Schweden
Beste Torschützen in der EM-Qualifikation: Alvaro Morata (Juventus Turin), Sergio Ramos (Real Madrid) und Rodrigo (Manchester City) mit je 4 Toren
Bekannteste Spieler: Sergio Busquets (Barcelona) Jordi Alba (Barcelona), David de Gea (Manchester United), Thiago Alcantara (Liverpool)
Trainer: Luis Enrique (ESP)
Schweden in Zahlen
Einwohner: 10,2 Mio.
Hauptstadt: Stockholm
Gründung des Verbandes «Svenska Fotbollförbundet»: 1908
FIFA-Ranking: 18.
Bisherige Teilnahmen an EM-Endrunden (6): 1992, 2000, 2004, 2008, 2012, 2016
Bestes EM-Resultat: Halbfinal (1992)
Qualifikation: Zweiter in Gruppe F (10 Spiele/21 Punkte) hinter Spanien
Bester Torschütze in der EM-Qualifikation: Robin Quaison (Mainz)
Bekannteste Spieler: Victor Lindelöf (Manchester United), Emil Forsberg (Leipzig), Dejan Kulusevski (Juventus Turin)
Trainer: Janne Andersson (SWE)
Polen in Zahlen
Einwohner: 37,9 Mio.
Hauptstadt: Warschau
Gründung des Verbandes «Polski Zwiazek Pilki Noznej»: 1919
FIFA-Ranking: 21.
Bisherige Teilnahmen an EM-Endrunden (3): 2008, 2012, 2016
Bestes EM-Resultat: Viertelfinals (2016)
Qualifikation: Sieger in Gruppe G (10 Spiele/25 Punkte) vor Österreich
Bester Torschütze in der Qualifikation: Robert Lewandowski (Bayern München) mit 6 Toren
Bekannteste Spieler: Lewandowski, Wojciech Szczesny (Juventus Turin), Piotr Zielinski (Napoli)
Trainer: Paulo Sousa (POR).
Slowakei in Zahlen
Einwohner: 5,5 Mio.
Hauptstadt: Bratislava
Gründung des Verbands «Slovenský futbalový zväz»: 1938
FIFA-Ranking: 36.
Bisherige Teilnahmen an EM-Endrunden (1): 2016
Bestes EM-Resultat: Achtelfinals
Qualifikation: Dritter in Gruppe E (8 Spiele/13 Punkte) hinter Kroatien und Wales; 0:0 (4:2-Sieg im Penaltyschiessen) in Playoff-Halbfinals gegen Irland; 2:1 n.V. im Playoff-Final gegen Nordirland
Bester Torschütze in der Qualifikation: Marek Hamsik (Göteborg) mit 3 Toren
Bekannteste Spieler: Hamsik, Milan Skriniar (Inter Mailand), Peter Pekarik (Hertha Berlin), Ondrej Duda (Köln)
Trainer: Stefan Tarkovic (SVK)