Nach 35 von 36 Runden der Super League ist der Meister erkoren: Es sind die Young Boys, die auch die alten Meister waren. Die Favoriten vom Wankdorf sind in den englischen Wochen die Stärksten.
Mit dem dritten Meistertitel in Folge kommen die Young Boys ihrem Vereinsrekord nahe. Unter Trainer Albert Sing und mit legendären Spielern wie Eugen «Geni» Meier, Heinz Schneiter, Walter Eich, Willy Steffen, Ernst Wechselberger und Toni Allemann reihten die Gelbschwarzen ab 1957 vier Titel aneinander. Dreimal in Serie hatte YB auch in den Anfängen der Schweizer Meisterschaft triumphiert: von 1909 bis 1911.
Im Sommer 2018 konnte Trainer Gerardo Seoane nahtlos dort weiterfahren, wo der Vorgänger Adi Hütter aufgehört hatte: mit einem breiten, starken und nahezu unveränderten Kader, mit einer Mannschaft, die sich an Siegesserien gewöhnt hatte, und mit Spielern, die nach YBs erstem Meistertitel seit 1986 noch viel mehr erreichen wollten. Das Ergebnis dieser Kontinuität war eine Saison, in der YB in die Champions League kam und nahezu alle Super-League-Rekorde brach, die der FC Basel gehalten hatte.
Vor der Saison 2019/20 war der Umbruch stark. Von der bewährten Abwehrkette Mbabu/Von Bergen/Nuhu/Benito aus Hütters Zeit war mittlerweile keiner mehr dabei. Auch die defensiven Mittelfeldspieler Djibril Sow und Sékou Sanogo nicht.
An einer Medienkonferenz vor Saisonbeginn wurde Seoane gefragt, was ihm lieber wäre: ein Meistertitel, zu dem die Young Boys abermals spazieren, oder ein Meistertitel, um den sie bis zuletzt hart kämpfen müssen, vielleicht bis in die letzte Runde. Der Journalist fügte noch an, dass ein hart erkämpfter Titel die zum Teil jungen Spieler in der Entwicklung vielleicht weiterbringen könnte. Seoane überlegte eine Weile und entschied sich für einen Kompromiss: ein harter Kampf bis zur Winterpause, danach eine klare Dominanz seiner Mannschaft.
Die Realität der Saison 2019/20 ergab einen Kompromiss im Kompromiss. YB musste viel, viel länger kämpfen, als Seoane es sich gewünscht hätte. Ein wenig spazieren konnte YB erst zuletzt. Nach den Runden 27, 28, 30 und zuletzt 31 waren die Berner Zweite mit einem Punkterückstand auf den letzten verbliebenen Herausforderer St. Gallen. Die Lücke tat sich in der 32. und der 33. Runde auf: St. Gallen verlor zweimal, die Young Boys errangen unterdessen zwei Auswärtssiege.
Dem Verletzungspech getrotzt
Es wäre vermessen gewesen, von YB eine gleiche oder ähnliche Dominanz zu erwarten, zumal die Wirkung des Umbruchs schon früh durch grosses Verletzungspech verstärkt wurde. Sandro Lauper erlitt einen Kreuzbandriss, und Ali Camara brach sich ebenfalls noch vor der Saison das Bein. So fehlten Seoane zwei wahrscheinliche Fixstarter. Im Herbst mutierte das Kadar zum Lazarett. Zeitweise fehlten neun potentielle Leistungsträger. Das ursprünglich breite Kader war jetzt sehr schmal. Seoane konnte nicht umhin, die Verbliebenen stark, vielleicht übermässig, zu forcieren. Und dies in einer Zeit der dreifachen Belastung (Meisterschaft, Cup, Europacup). Im Dezember waren die Spieler auf den Felgen, die Winterpause kam gelegen.
Die Liste der Verletzten war aber auch beim Beginn der Rückrunde längst nicht abgetragen. Wahrscheinlich hat der lange Unterbruch wegen des Coronavirus den Bernern in die Karten gespielt. Nach der Wiederaufnahme der Meisterschaft im Juni konnte Seoane weitgehend aus dem Vollen schöpfen und eine Mannschaft auf den Platz bringen, wie er sie sich wahrscheinlich schon im Herbst vorgestellt hatte. Plötzlich konnte er Ali Camara und Captain Fabian Lustenberger in die Innenverteidigung beordern. Dank einer generell gefestigten Defensive gewann YB auf einmal wieder deutlich mehr Spiele ohne Gegentor. Mit der gegen Schluss zum Tragen kommenden sehr breiten Auswahl an tauglichen Spielern hätte YB eine nicht zu unterschätzende Schattenmannschaft stellen können. Dass die Berner mit dem Fortgang der englischen Wochen mehr Kraftreserven hatten als etwa St. Gallen, wurde offensichtlich.
Stichwort Kontinuität
Schon seit mehreren Jahren gelingt es den Young Boys, jeden Wegziehenden durch einen valablen Neuen zu ersetzen. Ein Beispiel aus der jüngsten Meistersaison: Als der kleine Co-Stürmer Roger Assalé – er war die beste Ergänzung zum unbändigen Goalgetter und neuen Torschützenkönig Jean-Pierre Nsame – im Winter nach Spanien gezogen war, wurde der junge Neuling Meschack Elia als Nachfolger herangezogen. Und schon Ende Juni konnte man darüber streiten, ob Assalé oder Elia der Bessere ist.
Die Planung im Wankdorf ist rollend. Jeder notwendigen Veränderung stellen sich Trainer Seoane und Sportchef Christoph Spycher unaufgeregt. Sie wissen, dass sich kein Wunschzustand einfrieren lässt, und sie wissen auch, dass es nicht schlecht weitergehen kann, wenn sie den Weg nicht verlassen.
Nicht für alles, was auf YBs Weg zum Titelhattrick passiert ist, gibt es plausible Erklärungen. In der «Rekordsaison» 2018/19 hatte YB aus 18 Auswärtsspielen 42 Punkte geholt. Sie gewannen in fremden Stadien mindestens sechs Punkte mehr als jede andere Mannschaft in den Heimspielen. Aber im Spätherbst dieser Saison trat wie aus dem Nichts eine Schwäche auf. Aus neun Auswärtsspielen am Stück gewannen die Berner nur drei Punkte (3 Unentschieden, 6 Niederlagen). Gerardo Seoane konnte sich die grosse Diskrepanz zu den Auftritten im Wankdorf (bis anhin 15 Siege, 2 Unentschieden, 0 Niederlagen) die ganze Zeit über nicht richtig erklären. Aber es dürfte wiederum für die Mannschaft sprechen, dass sie gerade in der heissesten Phase zweimal nacheinander in der Fremde gewann.
SDA