Taktische Analyse Die Nummer 10 ist tot. Es lebe der totale Fussball

von Tobias Benz

19.7.2019

Für Spieler wie Mesut Özil gibt es im Fussball bald keinen Platz mehr.
Für Spieler wie Mesut Özil gibt es im Fussball bald keinen Platz mehr.
Bild: Getty

Jahrelang begeisterten Spielmacher wie Roberto Baggio, Zinédine Zidane oder Denis Bergkamp die Fussballwelt. Aber das ist Geschichte, die klassische Nummer 10 ist tot.

Der brasilianische Wunderfussballer Sócrates sagte einst: «Die Schönheit kommt zuerst. Das Resultat ist zweitrangig. Denn wirklich wichtig ist die Freude.» Der offensive Mittelfeldspieler war eine klassische Nummer 10. Mit unglaublicher Ballkontrolle und Übersicht schuf er zuerst Platz für sich selbst und fand dann den freien Raum für den Mitspieler. Spielzüge, bei denen dem Zuschauer die Kinnlade herunterkippte.

Für lange Zeit war die Nummer 10 der kreative Motor einer Fussballmannschaft. Der einzige Spieler auf dem Platz, der die gegnerische Abwehr mit zwei Ballberührungen ausspielen konnte und ein Spiel im Alleingang entschied. Die Legenden ihrer Zeit, Diego Maradonna, Roberto Baggio, Zinédine Zidane – oder in der Schweiz Ciriaco Sforza.

Die Fabrik ersetzt das Theater

Sócrates spielte 60-mal für die brasilianische Nationalmannschaft. Dabei gelangen dem 1,93m grossen Zehner 22 Trefer.
Sócrates spielte 60-mal für die brasilianische Nationalmannschaft. Dabei gelangen dem 1,93m grossen Zehner 22 Trefer.
Bild: Getty

Moderne Trainer halten nicht viel von Sócrates’ Worten. Heute steht das Resultat im Mittelpunkt. Wer nicht gewinnt, wird ersetzt. Das ist die Devise. Moderner Ballbesitzfussball hat das kreative Aufbauspiel längst ersetzt. Abwehrreihen werden so lange bearbeitet bis freie Räume entstehen und jeglicher Spielaufbau wird durch hohes, maschinenartiges Pressing behindert. Immer mit der Absicht schnelle, präzise Konter zu fahren. Für einen Künstler gibt es keinen Bedarf mehr. Das Theater wurde abgerissen und durch eine Fabrik ersetzt.

Aktuell agiert die Elite des europäischen Fussballs meist in einem abgewandelten 4-3-3. Bei Ballbesitz rücken die beiden Aussenverteidiger extrem weit vor, die Mannschaft wechselt auf ein sehr hohes 3-4-3 und das Spiel wird aus der Innenverteidigung oder von einem sehr tief stehenden zentralen Mittelfeldspieler ausgelöst. Die Premier League ist das perfekte Beispiel hierfür. In der Saison 18/19 dominierten Abwehrspieler die Passstatistik nach Belieben. In der Top-10 befinden sich acht Verteidiger und nur zwei Mittelfeldspieler.

Jorginho und Granit Xhaka sind die beiden einzigen Mittelfeldspieler in den Top-10. Beide defensiver Natur.
Jorginho und Granit Xhaka sind die beiden einzigen Mittelfeldspieler in den Top-10. Beide defensiver Natur.
Bild: Premier League

Eine solche Spielauslösung erlaubt es der Mannschaft, extrem hoch zu stehen und bei Ballverlust sofort ins Gegenpressing zu wechseln. Der moderne Konter startet dann auch meistens dreissig, vierzig Meter vor dem gegnerischen Tor. Das verspricht automatisch eine viel höhere Erfolgswahrscheinlichkeit als der klassische Konter aus der eigenen Hälfte.

Wie effektiv das sein kann, zeigt aktuell der FC Liverpool. Unter Jürgen Klopp kontert der Champions-League-Sieger in einem Tempo von bis zu 8,25 m/s.

Scheren-Stein-Papier

Fussballtaktik verhält sich wie Mode. Ein Trend löst den nächsten ab. So lange bis er vom ersten wieder eingeholt wird. Genau wie das 4-3-3, das ursprünglich dank den Holländern der 70er-Jahre bekannt wurde.

Fussballtaktik ist eigentlich nichts anderes als Scheren-Stein-Papier, nur mit viel mehr als drei Auswahlmöglichkeiten. Die Nummer 10 hat dabei in den letzten Jahrzehnten den Rhythmus vorgegeben und war ein Muss in fast jeder taktischen Aufstellung. Von diesem Standpunkt ist man nun abgerückt. Moderne Fussballer müssen Flexibilität weit über ihre Position vorweisen. Ein Mittelfeldspieler muss weiterhin Kreativität, Ballkontrolle und Übersicht an den Tag legen. Aber gleichzeitig muss er auch die defensiven Aufgaben übernehmen, Bälle abfangen, Zweikampfstärke unter Beweis stellen und Räume zustellen. Naby Keita vom FC Liverpool, Paul Pogba von Manchester United oder der Schweizer Nationalspieler Denis Zakaria sind gute Beispiele. 

Naby Keita ist im Mittelfeld problemlos auf jeder Position einsetzbar.
Naby Keita ist im Mittelfeld problemlos auf jeder Position einsetzbar.
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«Faule» Spieler, wie es der klassische Zehner im Normalfall ist, werden aussortiert. Dafür gibt es genügend Beispiele: Mesut Özil, James Rodriguez oder Philippe Coutinho haben in den letzten Jahren ihre Stammplätze verloren.

Andere Spieler passen sich an. David Silva beispielsweise hat gelernt, sich den neuen Systemen anzupassen und spielt aus einer viel tieferen Position im Mittelfeld für Manchester City gross auf.


«Die Nummer 10 gibt es eigentlich schon seit einer langen Zeit nicht mehr»

Joachim Löw, Trainer der deutschen Nationalmannschaft nach dem Rücktritt Mesut Özils

Es lebe der totale Fussball

Die Akteure entwickeln sich langsam aber sicher zu totalen Fussballern. Positionen werden immer unwichtiger, jeder Spieler muss überall spielen können. Dieser Trend lässt sich sehr gut auf der Torhüterposition beobachten. Spieler wie Alisson Becker (Liverpool) oder Ederson (Manchester City) fühlen sich mit dem Ball am Fuss genau so wohl wie ihre zehn Mitspieler. Manuel Neuer startete einst diese Neuorientierung und zählt zurecht bis heute als der beste Torhüter seiner Zeit.

Totaler Fussball wird häufig als Phantasie abgestempelt und möglicherweise ist er das auch. Allerdings finden in anderen Sportarten ähnliche Entwicklungen statt. Im Basketball spricht man von «Positionless Basketball». Das System der zugeteilten Positionen «Center», «Power Forward», «Small Forward», «Point Guard» und «Shooting Guard» zerbricht langsam. Spieler wie Draymond Green oder LeBron James sind fast überall einsetzbar.

Es ist nur schwer vorstellbar, dass Spieler wie Lionel Messi in Zukunft auf Defensivpositionen zum Einsatz kommen. Aber man muss sich das Spiel generell ohne Spielerpositionen vorstellen. Es muss einfach auf jeder Position zu jedem Zeitpunkt ein Akteur die entsprechenden Aufgaben ausführen. Welcher der zehn Feldspieler dabei gerade wo agiert, spielt aber keine Rolle mehr. Total verrückt. Totaler Fussball.

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