Murat Yakin spricht wenige Tage vor den entscheidenden Spielen in der WM-Qualifikation gegen Italien und Bulgarien über seine ersten Eindrücke im neuen Amt.
Der 47-jährige Basler erzählt vom Charakter des Teams und spricht darüber, was seine Spieler vom nächsten Gegner Italien lernen können. Vor allem aber geht es auch um den Ausfall des formstarken Stürmer Breel Embolo. «Ich muss mir Gedanken über andere taktische Lösungen machen. Das wird Auswirkungen haben auf das System», so Yakin.
Murat Yakin, eigentlich wollten wir mit Ihnen viele allgemeine Aspekte Ihrer Arbeit als Nationaltrainer besprechen. Aber jetzt müssen wir erst einmal über die Aktualität reden: Sie müssen in Italien, im entscheidenden Spiel der WM-Qualifikation, ohne Breel Embolo auskommen.
Murat Yakin: «Es war eine Schocknachricht. Im ersten Moment ging mir durch den Kopf, dass sein Ausfall ganz einfach nicht wahr sein darf. Ausgerechnet vor einer derart entscheidenden Phase. Das ist richtig ärgerlich.»
Der Ausfall wiegt umso schwerer, weil Embolo zuletzt in Top-Form war.
Breel hat in der Vergangenheit schon viel durchmachen müssen. Deshalb war ich sehr glücklich über seine Entwicklung in den letzten Monaten. Wenn man uns mit Portugal oder Belgien vergleicht, Länder mit ähnlicher Grösse, dann fällt auf, dass wir in fast allen Mannschaftsteilen Spieler mit vergleichbaren Transferwerten haben wie die Belgier oder die Portugiesen. Wir haben einen Sommer im Tor, in der Abwehr Elvedi, im Mittelfeld Zakaria. Und jetzt haben wir mit Breel einen Stürmer, der aufgrund seiner Entwicklung und seines noch jungen Alters ein neues Toplevel erreichen kann.
Aber eben: Er ist zu oft verletzt – und das seit Jahren.
Das ist eine Folge seiner Loyalität für seine Teams. Er spielte immer auf Positionen, die nicht seine waren. Aber er hat es akzeptiert und sich nie geschont. Er gibt keinen Ball verloren und hat sich auch deshalb oft verletzt. Es gab an der EM eine für ihn ganz typische Situation: Nachdem er gegen Spanien verletzt ausgewechselt worden war, sagte er, er habe die Mannschaft im Stich gelassen – und das nach einer Verletzung. Das sind grosse Worte für einen 23-Jährigen.
Captain Granit Xhaka fehlt schon den ganzen Herbst, nun fällt neben Embolo auch Nico Elvedi aus, und Shaqiri war zuletzt bei Lyon nicht in Form. Ändert dies etwas an Ihrer Zielsetzung für das Spiel gegen Italien?
Es bringt mir nichts, jetzt zu jammern. Ich muss mir Gedanken über andere taktische Lösungen machen. Ohne Embolo fehlt der einzige Stossstürmer, und Haris Seferovic ist ebenfalls nicht verfügbar. Das wird Auswirkungen haben auf das System. Trotzdem: Für uns zählt nur der direkte Weg an die WM, die direkte Qualifikation. So bin ich, so funktioniert auch die Mannschaft. Sie ist immer positiv und nimmt die Herausforderungen an. Die Spieler haben sich zum Beispiel auch nicht über den Platz in Genf beklagt und auch nicht über den Kunstrasen in Litauen.
Schliessen Sie ein Debakel gegen Italien wie beim 0:3 an der EM aus?
Wir haben aus dieser Niederlage gelernt, jeder für sich individuell. Ich bin sehr gespannt auf dieses Spiel, weil wir ein paar Komponenten aus dem Spiel der Italiener übernommen haben. Wir sind offen und bereit, auch vom Gegner zu lernen.
Sie haben Italien nicht nur als Gegner studiert, sondern auch zum Vorbild genommen?
Wir haben Italien analysiert mit Bildern einer Hintertorkamera. Beim Studium der Italiener haben wir erkannt, wo wir die grössten Fehler gemacht haben. Die Italiener verteidigen sehr mutig. Ein Beispiel: Giorgio Chiellini fällt im Spiel nicht gross auf, aber er macht sehr viel präventive Defensivarbeit in der gegnerischen Platzhälfte. Mit Chiellinis Leistungen habe ich meinen Spielern gezeigt, dass sie mehr Intensität haben müssen, mehr Laufbereitschaft auch. Chiellini ist 37 Jahre alt, aber er läuft viel mehr als unsere Innenverteidiger.
«Es ist kein Zufall, dass wir vier jetzt Mal hintereinander zu Null gespielt haben»
War die Abwehrarbeit das Hauptproblem beim 0:3?
Ich bin kein Gegner der Dreier-Abwehr. Doch mit einer Viererkette kann man den Gegner weiter vorne angreifen und besser kontrollieren, denn die Distanzen zwischen den Linien sind nicht ganz so gross. Ich gönne Yann Sommer die guten Kritiken, aber es ist auch ein Armutszeugnis, wenn der Goalie immer der Beste ist. Es war eines meiner ersten Ziele, die Angriffe der Gegner zu minimieren. Es ist kein Zufall, dass wir jetzt vier Mal hintereinander zu null gespielt haben.
Die Frage nach dem System in der Abwehr ausgeklammert haben Sie im Sommer ein erfolgreiches Nationalteam übernehmen können, das an der EM eine Euphorie ausgelöst hat. Sie konnten quasi auf einen fahrenden Schnellzug aufspringen. Hat das Ihre Aufgabe erleichtert oder sogar eher erschwert?
Ich sehe es nicht als ein Aufspringen auf einen Schnellzug. Die Ausgangslage war top, aber ich machte mir null Gedanken, was vorher war. Es zählt für mich nur, was in der Zukunft ist. Wir haben grosse Ziele.
Der Sprung vom FC Schaffhausen in der Challenge League zum Nationalteam ist ein grosser und in Ihrem Fall auch ein unerwarteter.
Ich hatte nie im Kopf: Irgendwann greife ich wieder an. Ich hatte meine Zeit auf dem höchsten Niveau, ich hatte Erfolg. Aber Chancen ergeben sich halt plötzlich. Köbi Kuhn zum Beispiel war 20 Jahre lang nirgends Trainer im Klub – und plötzlich war er Nationalcoach. Was ich mich immer gefragt habe: Nationaltrainer, kann mich das reizen? Reichen mir 10 Spiele pro Jahr? Genügt mir diese kurze Zeit, um ein Team besser zu machen?
Haben Sie eine Antwort gefunden?
Jetzt ging es Schlag auf Schlag. Aber so richtig beurteilen kann ich das noch nicht. Die grosse Pause kommt jetzt von November bis März. Aber was ich sagen kann: Ich habe Gefallen gefunden an dieser Arbeit. Man spürt jeden Tag die Bedeutung, die man hat als Nationaltrainer, den grossen Stolz auch und die grosse Ehre.
Nochmals zum grossen Sprung von Schaffhausen zum Nationalteam: Jetzt trainieren Sie Spieler, die in den besten Ligen der Welt top sind.
Klar, die Ansprüche von einem Xhaka, einem Shaqiri oder einem Akanji sind schon sehr hoch. Aber ich kenne die Abläufe auf diesem Niveau und weiss, wie man mit solchen Spielern Gespräche führt. Wichtig ist für einen Trainer, dass er schnell switchen kann. Als Trainer darfst du nicht nur nach einem Plan A funktionieren. Es braucht eine gute Basis, aber dann musst du darum herum agieren und reagieren, wenn es die Situation erfordert. Aber dafür bin ich kreativ und flexibel genug.
«Ich bin authentisch und kenne keine Zweifel»
Hilft Ihnen im Umgang mit dem Team auch Ihre Aura als ehemaliger Top-Spieler und anerkannte Persönlichkeit im Schweizer Fussball?
Ich würde sagen: ja! Aber das spiele ich nicht aus. Ich bin authentisch und kenne keine Zweifel. Das ist wichtig, denn die Spieler haben feine Sensoren und merken sofort, wenn man unsicher ist. Man muss mit ihnen hart, aber ehrlich und fair umgehen. Das gilt für alle Mannschaften, aber beim Nationalteam ist es speziell, weil man nicht der Haupttrainer ist der Spieler. Ihr Haupttrainer ist im Klub. Aber in der Woche, in der die Spieler bei mir sind, da bin ich der Chef.
Sie geben alles vor?
Neben dem Platz ist vieles Sache der Spieler. Sie wollten einen Team-Event machen und den Zirkus Knie besuchen. Das gefällt mir, die Spieler wollen auch mal raus. Früher waren sie vielleicht eher wie in einer eigenen Blase unterwegs, etwas eingeengt auch.
Binden Sie die Spieler auch in taktischen Fragen ein?
Die Linie für das Training und das Spiel gebe natürlich ich vor. Aber auch hier will ich den Spielern einen gewissen Freiraum lassen. Ich habe zum Beispiel gefragt, wie sie bei stehenden Bällen verteidigen wollen. Manuel Akanji hat angeregt, etwas tiefer zu stehen. Dann sagte ich zu Yann Sommer: Findest du das gut? Du musst es mittragen, du bist der Goalie, es ist deine Verteidigung.
Können die Spieler mit einem solchen Mitspracherecht gut umgehen?
Es ist schon so, dass sich die heutige Generation innerhalb des Teams nicht mehr exponieren will. Diese Tugend ist etwas verloren gegangen. Aber für mich ist das okay, das ist der Umgang untereinander in diesem Team. Die Spieler leben von Kameradschaft, Dynamik und Intensität. Sie wollen nicht anecken. Granit Xhaka ist vielleicht als einziger etwas anders – im positiven Sinn. Er weiss, dass er manchmal polarisiert, aber er macht es immer in einem respektvollen Ton.
Sie kannten eine andere Konstellation aus Ihrer Zeit als Nationalspieler.
Bei uns gab es noch den Röstigraben. Da flogen im Training schon mal die Fetzen, aber hinterher gab es auch immer wieder den Handschlag. Jetzt war ich am Anfang sogar etwas erschrocken. Im Training hätte man die Augen schliessen können, so ruhig war es. Aber es ist auch Beleg für Harmonie und Respekt unter- und füreinander.