Remo Freuler erlebte in der letzten Saison das volle Programm: Euphorie, wochenlanger Applaus und kein Happy End. Nun steht der Zürcher mit Atalanta Bergamo vor der nächsten intensiven Saison.
Der schwer zu verdauende Tiefpunkt vorweg: der Knock-out in der Nachspielzeit des Champions-League-Viertelfinals gegen Paris Saint-Germain. Die vielen aufmunternden Nachrichten auf seinem Mobiltelefon hoben die Laune nicht an, keine Wortmeldung schmälerte den tagelangen Schmerz. «Im Fussball gibt es kein Schade. Man scheidet aus, fertig. So unnötig das dann auch immer sein mag.» Freuler schauspielert nicht.
«Es nagt immer noch an mir», so Freuler. Das kristallklare Meer vor Sardinien versüsste Ende August den Moment etwas. Die beklemmenden Eindrücke, einen geschichtsträchtigen Coup um Haaresbreite verpasst zu haben, spült es nicht weg. Die Fortsetzung der europäischen Eliteklasse verfolgte Freuler nur noch am Rande. «Abends ging ich lieber essen. Ich brauchte eine Auszeit. Wir spielten wegen des Corona-Ausbruchs im Sommer praktisch durch.»
Ein ganzes Jahr wie auf Nadeln
Freulers Körper sandte nach über 3000 Spielminuten entsprechende Signale. Das Rendez-vous mit dem Nationalteam in der vorletzten Woche verpasste der Atalanta-Professional verletzungsbedingt. Muskelbeschwerden hielten ihn von Einsätzen in der Nations League ab. Stattdessen blieb etwas Zeit, die aufregendste Kampagne der Karriere mental aufzuarbeiten. «Irgendwie habe ich nie richtig abschalten können. Ein ganzes Jahr wie auf Nadeln.» Inzwischen sind die Batterien aufgeladen, Freuler trainiert wieder.
Neben dem Sport vereinnahmte Corona die Stadt in der Lombardei. In Bergamo breitete sich das Virus rasend schnell aus. Die Pandemie raubte den Menschen den Optimismus, Todesnachrichten verschärften die Depression. «Jeder hatte hier Bekannte, die betroffen waren», erinnert sich Freuler an die schwierigsten Tage. Covid-19 lag wie ein Schleier über Bergamo. «Nach dem Ausbruch wusste niemand so richtig, wie man damit umzugehen hat.»
22 Tore mehr als Juventus
Auf dem Rasen fanden die Spieler den Ausweg aus der Krise mit einer verblüffenden Leichtigkeit. Atalanta reihte einen Sieg an den nächsten Triumph. Ohne Tifosi im Stadion zwar, aber als Teil einer unerhört solidarischen bergamaskischen Gemeinschaft zelebrierten Freuler und Co. atemberaubend starke Auftritte. Nach der Wiederaufnahme der Meisterschaft im Juni erlitten sie innerhalb von 13 Spieltagen nur einen Fehltritt. «Darauf dürfen wir stolz sein.»
Am Ende einer denkwürdigen Rückrunde resultierte das beste Serie-A-Ergebnis der Vereinsgeschichte: 78 Punkte und das imposante Torverhältnis von 98:48. Die mitreissende Offensive des Champions-League-Debütanten produzierte 22 Treffer mehr als der entrückte Titelträger Juventus Turin. «Bei Sky Italia fragten sie die Zuschauer immer wieder: Wen habt ihr am liebsten verfolgt? Die Antwort war meistens: Atalanta!«, meldet Freuler und freut sich über die Komplimente aus der italienischen Fussballszene.
«Ich will in der Nationalmannschaft zum Stamm gehören»
Der Vorstoss an die erweiterte Spitze Italiens kommt nicht von ungefähr. Vieles ist organisch gewachsen. Das Ensemble kennt und schätzt sich. «Und wir mögen und können Offensive. Die Abläufe stimmen, jeder macht seinen Job zu 100 Prozent», bringt Freuler das System Atalanta auf den Punkt. Hinter den drei Top-4-Klassierungen seit 2016 steht kein Zauberer, sondern Gian Piero Gasperini. Der kluge Taktiker ist für Freuler «ein Glücksfall, der perfekt zur Mannschaft passt. Er lässt uns den nötigen Freiraum und forciert den Angriff.»
Die Konstellation passt für alle Beteiligten. Die Champions-League-Millionen verhindern (vorerst) eine unkontrollierte Verkaufswelle. Ambitionierte Professionals sind im mittelgrossen Verein weiterhin gut aufgehoben. In den persönlichen Planungen Freulers spielt die Aussicht auf eine nächste erfolgreiche Spielzeit im europäischen Segment eine zentrale Rolle – auch mit Blick auf die EM-Endrunde 2021: «Ich habe vor, aus einer guten Klub-Saison an die Endrunde zu fahren. Ich will in der Nationalmannschaft zum Stamm gehören.»
Freulers internationale Abenteuerreise geht weiter. Bis 2022 ist die Vereinbarung mit Atalanta fixiert. Alles Übrige ist Spekulation. Sein Marktwert hat sich seit seiner Ankunft in der Serie A auf gegen 23 Millionen Euro verzehnfacht. Zur unmittelbaren Zukunft sagt er nur: «Mir gefällt das Land, die Kultur, die Leute. Ich mag Italien. Ich bin hier sportlich und privat glücklich.»