In der Formel 1 läuft die Suche nach Lösungen zur Rettung der Saison auf Hochtouren. In der wegen des Coronavirus misslichen Situation stehen auch aussergewöhnliche Vorschläge im Raum.
Die Lage ist zu ernst für Zynismus. Die Bemerkung, dass es in der Formel 1 derzeit mehr offene Fragen gibt als der revidierte Kalender Grands Prix umfassen wird, sei dennoch erlaubt. Es ist in der Tat so: Sicher ist dieser Tage nur, dass in der Formel 1 nichts sicher ist.
Der Beginn der Saison wurde schrittweise verschoben, ein Rennen nach dem andern wurde abgesagt, acht an der Zahl sind es mittlerweile. Nach neuestem Stand soll der Start Mitte Juni in Montreal erfolgen – ausgerechnet in Kanada also, in jenem Land, dessen Nationales Olympisches Komitee sich als erste Dachorganisation entschieden hat, im Sommer keine Athleten an die (mittlerweile ohnehin verschobenen) Sommerspiele in Tokio zu entsenden.
Seit Montag Stillstand in Hinwil
Als erste Reaktion auf die prekäre Situation steht der Entscheid, die im August vorgesehene Pause in die Monate März und April vorzuverlegen. Die befohlene Ruhe dauert zudem drei statt zwei Wochen. Wenig überraschend ging Ferrari bei der Werkschliessung voraus. Maranello mit der Basis der Scuderia befindet sich in Norditalien, in der vom Coronavirus europaweit am härtesten getroffenen Gegend. In Hinwil im Werk des Teams Alfa Romeo ruht der Betrieb seit Montag.
Beschlossene Sache ist auch, dass die Revolution im technischen Reglement aus Kostengründen um ein Jahr auf die übernächste Saison verschoben wird. Als letzte Equipe hat Ferrari diesem Weg zugestimmt. «Es ist sicherlich nicht die Zeit für Egoismus und taktische Spielchen», sagt Teamchef Mattia Binotto. Die schwierigen Umstände schweissen zusammen. Ausgerechnet in einer Zeit, in der das Abstandhalten ein grosses Thema ist, sind sie sich in der Formel 1 näher gerückt. Das tut gut in einem Sport, in dem das allgemeine Wohl sehr oft schon den eigenen Interessen geopfert worden ist.
Binotto hatte sich in einer ersten Diskussionsrunde mit den Chefs der anderen Teams Bedenkzeit ausbedungen. Das Zögern wird zur Hauptsache dem Fakt geschuldet sein, dass sich das diesjährige Auto, der SF1000, bei den vorsaisonalen Testfahrten nicht als der ganz grosse Wurf entpuppt hat.
Klare Richtlinien in Bezug auf den Bau der Autos fürs nächste Jahr müssen noch festgelegt werden. Der vorab von den kleineren, finanziell weniger potenten Teams eingebrachte Vorschlag, für die Wagen der nächsten Generation so viele Teile wie möglich von den aktuellen Modellen zu übernehmen, dürfte nur bedingt umzusetzen sein. Das Chassis und mechanische Teile wie die Radaufhängungen sollen homologiert werden. Dagegen sollen Mutationen im Bereich der Aerodynamik, also unter anderem an Front- und Heckflügel, Unterboden und den Seitenkästen, gestattet sein. Die Übergangslösung tut den Budgets besonders gut, denn die Kostenobergrenze von 175 Millionen Dollar kommt wie geplant im nächsten Jahr erstmals zum Tragen.
Das Geld ist in der Formel 1 bekanntermassen an allen Fronten ein entscheidender Faktor. Neben dem sportlichen Hintergrund ist der finanzielle Aspekt beim Versuch, trotz der unübersichtlichen Lage so viele Grands Prix als möglich ins überarbeitete Programm aufzunehmen, die grösste Triebfeder. Die Gleichung ist einfach: Je mehr Rennen, desto höher die Einnahmen. Zu den wichtigsten Positionen auf der Haben-Seite gehören die mit den lokalen Veranstaltern ausgehandelten Antrittsgagen sowie die Gelder aus Sponsoring und Übertragungsrechten. Im Besonderen bei kleineren Rennställen sind derartige Einnahmen entscheidende Positionen in der Erfolgsrechnung. Bei der Equipe Alfa Romeo dürften sie rund ein Drittel des Budgets ausmachen.
Flexibilität im Höchstmass
Die gegenwärtige Ungewissheit macht das Erstellen eines Notprogramms zu einer Herkulesaufgabe. Von den Verantwortlichen ist Flexibilität im Höchstmass gefordert. Immerhin verfügen sie beim Besitzer der Formel 1, dem amerikanischen Konzern Liberty Media, die Kompetenz, im Alleingang entscheiden zu können. Geschäftsführer Chase Carey und seine Leute sind davon befreit, bei der Gestaltung beziehungsweise der Aktualisierung des Rennkalenders die Zustimmung der Teams einholen zu müssen. «Das vereinfacht es, die geänderten Termine mit den Organisatoren der Rennen zu vereinbaren», sagt Carey.
Als Auswege aus der verworrenen, aus dem Ruder gelaufenen Situation werden auch aussergewöhnliche Vorschläge aufs Tapet gebracht. So sollen die Rennwochenenden von drei auf zwei Tage verkürzt werden, um die allseitige Belastung auf ein vertretbares Niveau zu senken. Zudem wird darüber nachgedacht, auf gewissen Strecken Doppelveranstaltungen auszutragen. Sogar der Gedanke an eine saisonübergreifende Weltmeisterschaft ist ins Spiel gebracht worden, sollte sich das Warten auf den Saisonauftakt über Mitte Juni hinausziehen.
Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Doch die Wortmeldungen sind deutliche Zeichen für das Dilemma, gegen das die Entscheidungsträger in der Formel 1 anzukämpfen haben. Sie klammern sich an jeden noch so dünnen Strohhalm. Ihnen scheint (fast) jede Lösung recht, um zu retten, was noch zu retten ist.
SDA