Olympia-Hoffnung Stefan Küng: «Ich habe noch eine Rechnung offen»

sda

16.7.2024 - 04:30

Stefan Küng will in Paris Verpasstes nachholen

Stefan Küng will in Paris Verpasstes nachholen

Seit Jahren gehört Stefan Küng zu den besten Zeitfahrern. An Welt- und Europameisterschaften gewann der 30-jährige Thurgauer Radprofi schon zahlreiche Medaillen, doch auf den ganz grossen Wurf wartet er noch.

15.07.2024

Olympische Spiele und Stefan Küng – das war bisher keine Liebesbeziehung. In Paris möchte der Thurgauer Radprofi vergangenes Pech vergessen machen. Im Zeitfahren gehört er zu den Medaillenanwärtern.

sda

Seit Jahren gehört Stefan Küng zu den besten Zeitfahrern. An Welt- und Europameisterschaften gewann der 30-jährige Thurgauer Radprofi schon zahlreiche Medaillen, doch auf den ganz grossen Wurf wartet er noch. Mehr als einmal war das Sekundenglück nicht auf seiner Seite.

Eine besonders bittere Erfahrung machte Küng im olympischen Zeitfahren 2021 in Tokio. Lediglich vier Zehntelsekunden auf eine Stunde Fahrzeit fehlten ihm zur Medaille. Nun will er in Paris seine Sammlung vervollständigen, am liebsten mit Gold. Im Interview mit Keystone-SDA spricht er über das Erfolgsrezept, sein neues Zeitfahr-Velo, den Umgang mit Druck und erklärt, weshalb er lieber Zehnter wird als nochmals Vierter.

Stefan Küng, wie würden Sie Ihre Beziehung zu den Olympischen Spielen beschreiben?

«Meine persönliche Olympia-Geschichte hat sehr rau begonnen. 2016 habe ich mich mit dem Bahnvierer für Rio qualifiziert. Kurz vor den Spielen habe ich mich dann verletzt. Ich musste zu Hause vom Sofa aus zuschauen. Das war ein harter Moment, weil es gleichzeitig auch das Ende meiner Karriere als Bahnfahrer war. Ein krönender Abschluss blieb mir verwehrt.

Dann kam Tokio und Corona. Die Spiele wurden um ein Jahr verschoben. Was im Vorfeld eigentlich undenkbar war, war für mich nicht unbedingt schlecht. Physisch war ich 2021 in einer besseren Verfassung als 2020. Leider habe ich dann im Zeitfahren eine Medaille um 0,4 Sekunden verpasst. Ich habe also noch eine Rechnung offen mit den Olympischen Spielen.»

Denken Sie oft noch an diesen Tag zurück, weil es so knapp war?

«Nein, ausser, wenn ich wie jetzt wieder darauf angesprochen werde. Es ist nicht so, dass ich mit Verbitterung zurückschaue, überhaupt nicht. Es ist, wie es ist. Das Verdikt kann man im Nachhinein ohnehin nicht ändern. Das Gute ist, dass man wieder eine neue Chance erhält.»

Wie haben Sie diesen frustrierenden Moment in Erinnerung?

«Ich war mir damals im ersten Moment gar nicht bewusst, wie knapp es wirklich gewesen ist. Im Ziel dachte ich, es hätte so zu Rang 5 oder 6 gereicht, ich hatte keine Ahnung. Erst als mir Thomas Peter (der Teamchef von Swiss Cycling in Tokio – Red.) das Ergebnis gezeigt hat, wurde mir bewusst, wie bitter es ist. Man hat das Gefühl, man hat etwas verpasst. Ich möchte nicht noch einmal in diese Situation kommen, dass ich das Gefühl habe, da oder dort wären noch 0,4 Sekunden drin gewesen. Deshalb sage ich mir in Paris: All-In. Lieber werde ich Zehnter und bin es von der Pacing-Strategie her sehr offensiv angegangen, als noch einmal Vierter zu werden. Klar, das ist ein olympisches Diplom. Meines kam irgendwann per Post und liegt jetzt im Büro herum. Aber das ist nicht etwas, das du aufhängst, schon gar nicht, wenn ein 4. Rang draufsteht.»

Damit es nicht zu einem solchen Déjà-vu kommt, dafür soll auch ein neues Zeitfahr-Velo sorgen. Es trägt den Namen «Supersonica» – Überschall. Was hat es mit dem von Ihnen als «Wunderwaffe» bezeichneten Hightech-Produkt auf sich?

«Das Ziel war es, für Paris ein neues Zeitfahr-Velo für mich zu entwickeln. Doch dann wechselte mein Team Groupama-FDJ auf diese Saison hin den Veloausrüster. Man muss wissen: Ein solches Projekt benötigt normalerweise eineinhalb Jahre, bis das Endprodukt renntauglich ist. Als der neue Vertrag mit der Marke Wilier im August unterzeichnet wurde, blieben nur acht Monate. Das Ziel war es, nicht einfach ein konkurrenzfähiges, sondern das aktuell schnellste Zeitfahr-Velo der Welt zu produzieren. Es ist deshalb umso eindrücklicher, dass sie das hinbekommen haben. Zugegeben: Ich begegnete dem Projekt am Anfang mit einer gewissen Skepsis, doch diese hat später in eine positive Stimmung und schliesslich in Vorfreude umgeschlagen. So ein Gefühl wie jetzt hatte ich zuvor noch nie auf einem Zeitfahr-Velo.»

Sie haben mal gesagt: «Auch mit dem schnellsten Velo der Welt brauchst du gute Beine.» Was muss am Tag X zusammenpassen, damit alles aufgeht?

«Letztlich musst du physisch in einer Top-Fassung sein. Im Zeitfahren ist es sehr wichtig, dass du in den Flow findest, dass alles perfekt harmoniert. Damit du das, was du leisten kannst, deine 100 Prozent, wirklich abliefern kannst. Ich denke, darum geht es vor allem. Darauf ist die ganze Vorbereitung ausgerichtet.»

Mit den Erfolgen steigt auch der Druck und die Erwartungen. Wie gehen Sie damit um?

«Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde: ‹Das tangiert mich überhaupt nicht›. Aber letztlich musst du das umkehren. All die Leute, die hinter dem Projekt stehen, die glauben an dich und haben Vollgas gegeben in der Entwicklung, weil sie es dir auch zutrauen. Dies geschieht nicht, weil sie irgendwie aus einem Topf deinen Namen gezogen haben. Das basiert auf Vertrauen, das ich mir in der Vergangenheit mit meinen Leistungen erarbeitet habe. Wenn ich merke, dass sich wirklich jeder voll dahinter klemmt, schöpfe ich daraus zusätzliche Motivation. So gesehen birgt der Druck auch positive Aspekte.»

Wenn Sie wählen könnten: Olympia-Gold in Paris oder den WM-Titel im September in Zürich. Für was würden Sie sich entscheiden?

«Ich würde die Olympia-Medaille nehmen, weil es etwas ist, das grösser ist als unser Sport selber. Sicherlich wird die Heim-WM auch sehr speziell werden, mit dem Heimvorteil und allem Drumherum. Darauf freue ich mich auch extrem. Aber die Olympischen Spiele lösen schon noch mal etwas aus, das einzigartig ist. Eine Olympia-Medaille ist das, was mir noch fehlt. Das ist für mich das grosse Ziel in diesem Sommer.»