Ryoyu Kobayashi hat alles, um als zweiter Japaner die Vierschanzentournee zu gewinnen. Er könnte sogar den totalen Triumph mit vier Siegen nachholen, den Japans Verband 1972 Yukio Kasaya verwehrt hat.
Die Strategie des japanischen Skiverbandes würde heute nur Kopfschütteln auslösen. Aber wer erinnert sich überhaupt noch an 1971/72. Yukio Kasaya war ein kleiner, mit seinen Fähigkeiten jedoch alle überragender Skispringer. An der deutsch-österreichischen Vierschanzentournee um den Jahreswechsel sprang er in einer eigenen Kategorie.
Zuerst in Innsbruck, dann in Garmisch-Partenkirchen und in Oberstdorf – die Reihenfolge der Wettkämpfe war aus Anlass des 20-Jahre-Jubiläums der Tournee geändert worden – kam keiner an Kasaya heran. In Innsbruck und in Garmisch siegte er mit 12 und 13 Punkten Vorsprung, nur in Oberstdorf kam der Zweite, der Norweger Ingolf Mork, einigermassen nahe an ihn heran.
Unerbittliche Bürokratie
Auch wenn man es nie wissen wird, darf man annehmen, dass Kasaya auch am Springen in Bischofshofen gewonnen und als erster und für weitere 30 Jahre (bis zu Sven Hannawald 2002) einziger Springer den Grand Slam der Tournee aufgestellt hätte. Aber Kasaya durfte in Bischofshofen nicht antreten. Nach dem Wettkampf in Oberstdorf musste er wie die übrigen Japaner die Koffer packen und in die Heimat fliegen. Der Verband wollte es so. Die Verantwortlichen ordneten den Winterspielen in Sapporo alles unter und verlangten eine optimale Vorbereitung. Auf diese Weise hatte Kasaya exakt einen Monat Zeit, um sich auf den Wettkampf auf der Normalschanze in Sapporo vorzubereiten. Wäre er in Bischofshofen noch gesprungen, wären es zwei Tage weniger gewesen. Flüge umzubuchen wäre auch in den Siebzigerjahren schon möglich gewesen. Aber die Bürokratie auf Hokkaido war unerbittlich.
Heute wäre die eigenartige Strategie des Verbandes nicht mehr möglich. Die Vierschanzentournee ist auch in der Wahrnehmung im Fernen Osten längst der Anlass, dessen Bedeutung nur von den Olympischen Spielen übertroffen wird. Bis heute ist Kazuyoshi Funaki (1998) der einzige Japaner in der Liste der Tourneesieger.
Erinnerungen an Schmitt und Innauer
In Sapporo wurde der heute 75-jährige Yukio Kasaya auf der Normalschanze überlegen Olympiasieger vor seinen Landsleuten Akitsugu Konno und Seiji Aochi, der 2008 mit 66 Jahren starb. Kasaya hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit auch auf der Grossschanze gewonnen, aber der Wettkampf wurde im Rahmen einer Windlotterie ausgetragen. Kasaya zog für beide Sprünge eine Niete. Der Pole Fortuna dagegen hatte die gleichnamige römische Göttin an seiner Seite. Wojciech Fortuna siegte einen Zehntelpunkt vor Walter Steiner, dem Vogelmenschen aus dem Toggenburg.
In diesen Tagen wird sich Ryoyu Kobayashi den Grand Slam an der Tournee, das vielleicht Grösste in der Karriere eines Skispringers, nicht vom eigenen Verband zerstören lassen müssen. Er hat alles ganz allein in der Hand und in den Beinen.
Noch fehlen ihm zwei Siege, jene in Innsbruck am Freitag und in Bischofshofen am Sonntag. Es gibt in der Geschichte der Tournee auch ausreichend Beispiele dafür, dass ein Springer in Oberstdorf und in Garmisch siegte, jedoch nicht in der Gesamtwertung. So erging es dem österreichischen Star Toni Innauer 1975/76. Er siegte damals auch in Bischofshofen, die Tournee aber gewann der Ostdeutsche Jochen Danneberg. Auch in späteren Jahren gewann Innauer die Tournee nicht. Es ist ein Makel in seiner Biographie. Der deutsche Publikumsliebling Martin Schmitt startete 1998/99 mit zwei Siegen, in der Gesamtwertung jedoch setzte sich der Finne Janne Ahonen ohne Einzelsieg durch. Ahonen gewann die Tournee noch weitere vier Male, Schmitt nie.
Stolperstein Bischofshofen
Nebst Kasaya und Innauer gewann auch der Österreicher Karl Schnabl 1974/75 drei Einzelspringen, aber nicht die Tournee. Er musste seinem Landsmann Willi Pürstl den Vortritt lassen.
Die Paul-Aussenleitner-Schanze in Bischofshofen, wo die Tournee jeweils am Dreikönigstag abgeschlossen wird, wurde in der Vergangenheit am häufigsten den dominierenden Springern und Anwärtern auf den Gesamtsieg zum Verhängnis. Die in den Hang gebaute Naturschanze hat einen Charakter, der sie von den andern Schanzen der Tournee abhebt. Auch Kobayashi wird sich dieser Herausforderung noch stellen müssen. Zuerst wird er sich aber noch am Freitag in Innsbruck beweisen müssen.