Marcel Hirscher entscheidet sich nach langem Ringen für die Fortsetzung seiner Karriere. Der Dominator der Alpin-Szene will neue Wege gehen - als Sportler und als Privatmann.
Rücktritt! Karriereende! Abgang! Wie es Marcel Hirscher auch genannt hat, die Gedanken haben ihn gequält. Er hat wochen-, ja monatelang mit sich gerungen. Ist der Moment gekommen, Bestehendes hinter sich zu lassen? Ist die Zeit schon reif, ohne die täglichen Herausforderungen in Training und Wettkampf sein zu können? Der Salzburger hat abgewogen zwischen erfüllenden Siegen und den Nebenwirkungen und Konsequenzen, die in ihm Zweifel und ab und zu sogar Ängste ausgelöst haben.
Die Schattenseite des Erfolgs
Der Preis, den er für seine Erfolge zahlt, ist für Hirscher zu hoch geworden, die Schattenseiten seiner Popularität haben zu sehr Überhand genommen. Hirscher wehrt sich dagegen, Allgemeingut zu sein. Die öffentliche Vereinnahmung überschreitet für ihn das Normalmass. Hirscher pocht auf das Recht, abseits der Pisten ein einigermassen normales Leben führen zu dürfen.
Das nicht mehr gewährte Recht hat seine Gedanken beeinflusst - und in ihm das Werweissen über den möglichen Rücktritt beschleunigt. Die Sehnsucht nach einem ruhigeren, geordneteren Alltag war gross, die Gefahr, dass die Skination Österreich ihren erfolgreichsten Athleten verlieren würde, entsprechend. «Ich war ganz nahe dran aufzuhören», sagt Hirscher.
Der günstige Zeitpunkt
Der Zeitpunkt, einen Schlussstrich zu ziehen, wäre günstig gewesen nach diesem märchenhaft verlaufenen Winter, seinem erfolgreichsten überhaupt. Die Gelegenheit war da, sich auf dem absoluten Höhepunkt zu verabschieden. Doppel-Olympiasieger war Hirscher geworden, 13 Weltcup-Rennen hatte er gewonnen, zum siebten Mal in Folge den Gesamtweltcup, dazu die kleinen Kugeln für die Siege in der Slalom- und Riesenslalom-Wertung - und das in einer Saison, in die er nach einem im August erlittenen Knöchelbruch praktisch ohne Vorbereitung und entsprechend geringen Erwartungen gestiegen war.
Hirscher, für den primär die Gegenwart zählt und der von Planung für einen grösseren Zeitraum wenig hält, hatte sich intensiv mit der Zukunft zu beschäftigen. Es sollte Juli werden, bis sich Hirscher im Klaren darüber war, als Skirennfahrer weiterzumachen. Die Ambitionen des Spitzensportlers hatten die Bedenken des Privatmanns verdrängt - oder zumindest auf ein erträgliches Mass reduziert.
Das Feuer lodert noch zu sehr in Hirscher, Ehrgeiz und Erfolgshunger sind nach wie vor zu gross, um sich zu verabschieden. Er spürt, dass die Lust auf Siege und die Sucht nach Optimierung ungebrochen sind. An Herausforderungen fehlt es dem nach Perfektion Strebenden trotz des prall gefüllten Palmares weiterhin nicht.
Die Familie hat Priorität
Und doch wird es für Hirscher nicht mehr das Gleiche sein im kommenden Winter. Die Veränderungen im privaten Umfeld werden Konsequenzen auf seine Arbeit haben. Die Heirat mit seiner langjährigen Lebenspartnerin Laura Moisl und die Geburt des ersten Kindes vor zweieinhalb Wochen verschieben die Prioritäten. Das Skifahren steht nicht mehr uneingeschränkt im Mittelpunkt. «Bisher hat sich alles in meinem Leben um den Sport gedreht. Das Private ist zu kurz gekommen. Das wird sich jetzt ändern.»
Hirschers neue Gesinnung könnte Auswirkungen auf sein Rennprogramm haben. Jedenfalls hat er angekündigt, auf den einen oder anderen Start zu verzichten, sollte es die Situation (in der Familie) erfordern. «Es kann sein, dass ich woanders gebraucht werde, dass es Wichtigeres gibt als ein Skirennen.» Konkrete Pläne gibt es nicht. Hirscher wird spontan entscheiden.
Den angedachten Kompromiss will Hirscher aber nicht als halbherzige Lösung verstanden wissen. An seiner Professionalität lässt er keinen Zweifel. Der Sieg ist weiterhin sein Ziel. «Ich will nach wie vor nicht Zweiter werden.» Da spricht wieder der ehrgeizige Skirennfahrer. Der um Wahrung der Privatsphäre ringende Marcel Hirscher ist in diesem Moment weit weg. Die Gedanken an den Rücktritt ebenso.