Ivica Kostelić Kostelić: «Odermatt wird eine grosse Figur, dabei dachte ich, Meillard werde der Superstar»

Von Marko Vucur und René Weder

16.3.2021

Werden die Techniker im Weltcup bevorteilt? Was macht die Schweiz besser als Österreich? Ist der Gesamtweltcup in der Corona-Saison weniger wert als in anderen Jahren? Und was wird aus Marco Odermatt? Ski-Legende Ivica Kostelić ordnet im Interview mit «blue Sport» ein.

Von Marko Vucur und René Weder

16.3.2021

Ivica Kostelić ist ein Fahrer aus altem Schrot und Korn. Der 1979 in Zagreb geborene Kroate gewann 2011 den Gesamtweltcup, ist 26-facher Weltcup-Sieger, holte insgesamt vier Olympische Medaillen, war Weltmeister und ein Allrounder, wie ihn der Skirennsport heute kaum mehr kennt.

Kostelić wuchs mit seiner Schwester Janica in einfachen Verhältnissen auf. Vater Ante, ein ehemaliger Handballer, förderte die Karrieren der Geschwister intensiv – bekanntlich auch mit unkonventionellen Methoden. Oft übernachtete die Familie selbst im Winter im Zelt oder im Auto und bestieg die Hänge zu Fuss, da sie sich Hotelübernachtungen und Tickets für den Skilift nicht leisten konnten. Oberstes Ziel war die konsequente Heranführung an die Weltspitze – und das haben letztlich sowohl Janica, als auch Ivica geschafft. Der heute 41-Jährige ist dem Skirennsport nach seinem Rücktritt 2017, den er in seinem geliebten Bergdorf Wengen erklärte, treu geblieben und coacht derzeit, wenn er nicht gerade über den Atlantik segelt oder sich die Zeit mit Gitarrenspielen vertreibt, das Technik-Team des kroatischen Nationalkaders. 

Erfolgreiche Ski-Familie: Ivica Kostelić mit Vater Ante und Schwester Janica (Archiv, 2011).
Erfolgreiche Ski-Familie: Ivica Kostelić mit Vater Ante und Schwester Janica (Archiv, 2011).
Bild: Keystone

«blue Sport» hat mit Kostelić, der in der Schweiz hohes Ansehen und viele Sympathien geniesst, ein ausführliches Interview geführt, worin der Kroate kritisch und reflektiert zur Entwicklung des alpinen Skirennsports Stellung nimmt. Im ersten Teil des Interviews richtet Kostelić den Fokus aber zunächst auf die Schweizer Athleten und die in Lenzerheide zu Ende gehende Saison. Im zweiten Teil, den wir nach dem Saisonfinale publizieren, folgt Kostelićs umfassende Analyse zur Wandlung des Skirennsports in den letzten Jahrzehnten. 

Kostelić über den Vorwurf, wonach Techniker im Weltcup bevorteilt werden ...

Ich denke, die Techniker haben, falls überhaupt, einen kleinen Vorteil, weil einfach weniger Rennen abgesagt werden müssen als bei den Speed-Disziplinen. Auf der anderen Seite, und das wird oft vergessen, existiert bei den Fahrerinnen und Fahrern der technischen Disziplinen tendenziell das höhere Risiko auszuscheiden. Man verliert leichter Punkte in diesen Rennen. Kommt hinzu: Riesenslalom und Slalom unterscheiden sich viel stärker als etwa die Abfahrt und der Super-G. 

Zusammengefasst: Absagen gehören eher zu den Speed-Rennen, aber ob das letztlich ein grosser Vorteil für die Techniker ist, kann ich nicht beurteilen. Am besten wäre es ohnehin, wenn alle alles fahren würden. Aber das gibt es leider nicht mehr heutzutage.

Auf der einen Seite haben wir heute Fahrer wie Aleksander Aamodt Kilde oder Marco Odermatt, die auf Abfahrt, Super-G und Riesenslalom setzen und auf der anderen Seite die Techniker mit Slalom und Riesenslalom. Es ist für einen Speed-Fahrer vielleicht etwas einfacher, im Riesen mitzumischen. So hat er drei Disziplinen, bei denen er punkten kann. Für einen Fahrer, der vom Slalom kommt, ist es ungleich schwieriger, in den Speed-Disziplinen mitzumischen. Es ist wirklich ein weiter Weg vom Slalom bis zur Abfahrt. Im Moment sehen wir eine Entwicklung, ähnlich wie damals bei Hermann Meier und Stephan Eberharter: Schnelle Disziplinen und Riesenslalom. Das scheint im Moment das Konzept zu sein. Pinturault ist vielleicht der letzte Gesamt-Allrounder. Er profitiert sicher davon, dass er in allen Disziplinen punkten kann.

... über die «minderwertige» Corona-Saison ...

Ich finde, dass die Saison nicht ganz so hochwertig ist, wie in anderen Jahren. Die Rennen fanden alle in Europa statt. Und: Ohne die Slaloms in Wengen und Kitzbühel fehlt etwas. Flachau war bezüglich Schwierigkeit kein echter Ersatz. Aber das alles spielt in zehn Jahren keine Rolle mehr. Die Saison sieht dann aus wie alle anderen. Nur wenige werden sich dann noch daran erinnern, dass 2020/2021 die «Corona-Saison» war – ohne die schwierigen Slaloms in Wengen und Kitzbühel. Für mich ist übrigens auch eine Saison ohne Abfahrten am Lauberhorn und in Kitzbühel keine vollwertige Saison. Aber am Ende zählt nur der Gesamtweltcup.

... über die Rennen ohne Fans ...

Ich bin kein Fahrer mehr und kann das vielleicht nicht abschliessend beurteilen. Es gibt sicher positive und negative Aspekte, wenn es viel Publikum an den Rennen gibt. Da ist die Ablenkung gross, gerade auch bei den Heimrennen. Aber das Publikum ist einer der wichtigsten Teile des Sports. Nicht nur im Skifahren. Wenn es so weitergeht, ist es wirklich traurig. Eine Saison ist in Ordnung. Es sieht ein bisschen aus wie im Training. Aber es gibt keine «Vibration». Es ist sehr ruhig, man hört alles. Für mein Empfinden ist es viel zu ruhig. Aber es blieb uns nichts anderes übrig, als durch diese Saison zu gehen. Jetzt hoffen wir, dass die Show bald zurückkehrt, denn die gehört dazu. Natürlich macht es am TV auch Spass, aber vor Ort ... das kann man nicht vergleichen. Ich sehne mir jedenfalls das Publikum zurück.

... über den Zweikampf Schweiz gegen Österreich ...

Noch vor einer Saison hatte die Schweiz total im Slalom weniger Weltcup-Siege als ich. Das ist eine unglaubliche Geschichte, aber sie ist wahr. Die Schweiz war nicht interessiert am Slalom. Da haben sie nun doch grosse Schritte gemacht. Das hilft natürlich sehr im Duell mit Österreich.

Die andere Sache ist, dass Österreich sicher nicht mehr so stark ist, wie in Zeiten von Hermann Meier. Oder von Marcel Hirscher ... er war eine Lokomotive für die ganze Mannschaft. Das passiert oft, auch bei anderen Nationen: Wenn die Lokomotive weg ist, dann fehlt der Antrieb und das ist auch jetzt nicht einfach für Österreich. Sie haben aber auch noch andere Probleme. Meiner Meinung nach gehören beide Nationen, die Schweiz und Österreich, wegen der Optimierung des Weltcups und der Vereinfachung der Pisten zu den Verlierern. Beide Länder haben an sich am meisten Ressourcen und die besten Pisten. Jetzt drängen allmählich Läufer aus den Ski-Hallen in einen Sport, der zu 100 Prozent natürlich ist. Und ich glaube, beide Nationen verlieren unter diesen Umständen.

Dennoch: Das Duell wird weitergehen, das ist klar. Bei den Schweizer Frauen wurden insbesondere in den schnellen Disziplinen grosse Fortschritte erzielt – sie sind die Königinnen im Weltcup. Und für die Nationenwertung kommen auch von dieser Seite viele Punkte. Vielleicht sind und waren die Österreicher zu sehr auf die Männer fokussiert. Doch die Punkte zählen überall gleich, auch wenn es bei den Frauen vielleicht etwas einfacher wäre, um an Punkte zu kommen.

... über die Wertschätzung, die er in der Schweiz erfährt ...

Es ist sicher eine interessante Verbindung, die ich mit der Schweiz habe. Und ich habe oft darüber nachgedacht. Mein Vater und ich sprechen regelmässig darüber und wir fragen uns, weshalb wir so viele Erfolge in der Schweiz feiern durften. Was mir immer gefallen hat, ist die Tatsache, dass viele Pisten weniger kultiviert waren als an anderen Orten. Sie sind viel natürlicher und haben viel mehr Konfiguration. Zum Beispiel in Adelboden oder Wengen. Es gibt so viel Terrain und Unterschiede. Das ist mir immer entgegengekommen.

Ich habe mich auf Pisten mit vielen Übergängen stets wohlgefühlt, und davon gibt es in der Schweiz viele. Das ist vielleicht auch ein Vorteil, den die Schweizer Nachwuchsfahrer haben. Hier wird immer viel von der Ursprünglichkeit eines Hangs beibehalten. Nehmen wir die Lauberhorn-Abfahrt. Das ist ein Monument für den Skirennsport. Ein Berg, wie er ist. Und das ist sehr wichtig.

... über seine Schweizer Freunde ...

Ich hatte immer gute Kontakte mit dem Schweizer Team. Zu Beat Feuz oder Silvan Zubriggen beispielsweise. Beat hat mir geholfen, er hatte ähnliche Probleme mit dem Knie wie ich. Und Beat ist ein besonderer Läufer.

Didier Cuche war ein Vorbild für mich – für alle meiner Generation. Mit dem Nationalkader haben wir im September und Oktober oft gemeinsam in Zermatt trainiert. Etwa in den schnellen Disziplinen. Wir konnten ja gar nicht ohne Schweizer trainieren. Auch mit Franz Heinzer, dem Junioren-Trainer im Europacup, oder mit Stefan Abplanalp verbinden mich viele Erinnerungen. Wir als Kroaten haben gerade mit der Schweiz und Österreich viele Verbindungen. Auch wenn ich nicht immer mit allem einverstanden bin, wie sich die beiden grossen Nationen des Skirennsports entwickeln, aber wir unterstützen uns, etwa auch, wenn es um die FIS geht.

Kostelić mit Didier Cuche: Grosser gegenseitiger Respekt.
Kostelić mit Didier Cuche: Grosser gegenseitiger Respekt.
Bild: Keystone

... über Marco Odermatt ...

Ich habe mit Marco Odermatt in Zermatt trainiert, als er in einem Entwicklungsteam des Schweizer Nachwuchskaders war. Das war vielleicht vor zehn Jahren und er war damals etwa 13 Jahre alt. Da habe ich ihn zum ersten Mal gesehen ... und er war sehr schnell, das war sofort klar. Ein Super-Talent. Er hat einen eigenen Stil. Was mir ganz besonders gefällt: Er fährt mit unglaublich viel Gefühl. Das ist seine grösste Qualität. Und natürlich seine mentale Stärke. Sonst wäre er in diesem Alter noch nicht auf diesem Niveau. Hier und da gibt es solche talentierten Fahrer. Ähnlich war das mit Beat Feuz in den schnellen Disziplinen.

Bei Marco bin ich mir sicher, dass er bald den Gesamtweltcup gewinnen wird. Er wird eine grosse Figur im Weltcup, wenn er gesund bleibt.

In der Zukunft sehe ich noch keine grosse Konkurrenz für Odermatt, sobald Pinturault abtritt. Marco hat seine besten Jahre noch vor sich. Die Frage ist: Wer kommt, um Odermatt gefährlich zu werden? Wer auch immer das sein wird, er wird noch ein paar Jahre benötigen, bis er an der Spitze ankommt. Kilde ist natürlich präsent, physisch und mental sowieso. Er könnte in den nächsten Jahren Odermatts Konkurrent sein, fährt er doch auch in drei Disziplinen mit.

... über Mauro Caviezel und Loïc Meillard ...

Mauro Caviezel ... wenn er im Riesenslalom antreten würde, wäre das sehr interessant. Er ist ein intelligenter Fahrer und bereits in zwei Disziplinen sehr schnell. Aber ich sehe im Moment leider nicht, dass er es im Riesen schaffen kann.

Loïc Meillard ... ich habe früher gedacht, dass Loïc ein Superstar wird, wie Odermatt. Er hat grosses Allrounder-Potenzial. Er ist ebenfalls ein intelligenter Skifahrer und ein toller Athlet. Aber ihm fehlt noch eine ganz starke Disziplin. Du brauchst eine Disziplin, in der du konstant und überragend bist, wenn du um die grosse Kugel mitfahren willst.